Der neue, grade erschienene Handke-Text „Zwiegespräch“ ist noch schmaler als sein Vorgänger „Mein Tag im anderen Land“ von 2021. Auf nur 67 Seiten in großem Druck mit breitem Rand führt der alte Erzähler ein Zwiegespräch mit einem offenbar ebenso alten Gegenüber. Die beiden Alten definieren sich als „Narren“, die mit ihren jeweiligen Erinnerungen und dem Blick auf die Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spielen. Es geht um Sprache, um Theater und um die Schuld der Großväter-Generation.
Anders als in den beiden Vorgänger-Bänden „Das zweite Schwert“ und „Mein Tag im anderen Land“ ist es diesmal nicht die Wut über eine Welt, die den Erzähler nicht versteht, nicht an ihn heranreicht, sondern die kontemplative Sicht der beiden Alten auf die Welt. Es ist ein Buch über das Alter, von einem alten Autor, möglicherweise nachvollziehbar auch nur von alten Menschen. So soll hier ein Versuch gestartet werden von einer alten Leserin.
„Genug jetzt in die Leere geschaut“ heißt der erste Satz, der gleich wieder aufgehoben wird mit „Von Leere keine Spur. Oder doch“. Die Leserin ist gespannt, was jetzt kommt. Sie stellt sich zwei alte Männer auf einer Bank sitzend vor, die in die Weite blicken. Erst nach einiger Zeit kommen die Worte, die beiden Alten spielen sich die Bälle zu. Der eine erwartet die Belebung der Leere, die „Bevölkerung“ seiner Tagträume durch Erinnerung. Der andere sieht einen Einzelnen, den Ahnen, den Großvater. Dann werden Geschichten erzählt, die aus der frühen Kindheit der beiden Alten als Bilder auftauchen, die sie ein ganzes Leben begleitet haben.
Für den einen ist es das frühe Theatererlebnis, dessen Handlung vergessen ist. Aber ein Kulissenbild hat sich tief eingegraben: Das Bild eines geschlossenen Hauses mit Giebel und einem Fenster. Das Kind erwartet während der ganzen Vorstellung, dass sich die Tür öffnet und ein Mensch heraustritt, ein einzelner, ein besonderer. Aber die Tür bleibt geschlossen. Dieses Erlebnis im Kinderhaustheater wird prägend für seine lebenslange enttäuschte Erwartung ans Theater. Nur in der Wirklichkeit gebe es noch hie und da einen aus einer Tür herausstürzenden Menschen, das Theater wie auch seine „Schwester“, der Film, habe das Dramatische verloren und die Sprache dazu.
Aber Geschichten lassen sich noch erzählen, wenn sie auch „allesamt erstunken und erlogen“ sind wie die Kriegsgeschichten des Großvaters des anderen Alten. Der Alte erzählt die Großvatergeschichten von den eingemauerten Hornissen, deren „Getöse und Dröhnen“ das Kind verfolgt, von der aufgespießten Schlange, die aus Rache für den im Krieg gefallenen Sohn gequält wird. Das alles erzählt er, um mit jeder Großvater-Romantik aufzuräumen. Er klagt die Großväter-Generation an: Sie waren im Dritten Reich auch in Österreich nicht die Verführten, sondern „Begeisterte“, selbst Verführer, die ihre falsche Begeisterung noch an ihre Enkelkinder weitergeben.
Hier wird der Ton hart und abrechnend, aus diesem Stoff ließe sich ein wahres Drama schreiben, heißt es, wenn es noch einen Friedrich Schiller gebe.
Was bleibt, ist ein Abgesang auf das Theater. Dass aus dem Kinderhaustheater die „Sprache … frisch ertönen würde“ ist nur ein Tagtraum, das Kinderhaustheater ist nur ein Kartenhaus.
Doch schöpfen diese beiden Alten aus ihrer wehmütig-enttäuschten Rückblende neue Zukunft. Auch wenn die Jungen sie übersehen, sie, die Alten, sind es, die noch mit der Sprache spielen können, die noch immer auf die sich überraschend öffnende Tür warten. Sie werden keine Ruhe geben: „Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht“.
Was Handke uns hier vorführt, ist eine überlegene Sicht auf die ach so prosaische Welt der Heutigen. Er bleibt der durch die Welt Wandernde, der sich die Muße nimmt, zu betrachten und das Leben zu verstehen, das die meisten Menschen nicht verstehen.
Er selbst verweigert die Sicht des gütigen, verzeihenden Großvaters, im Gegenteil: Er hält den Jüngeren wie auch den Älteren den Spiegel vor, um ihnen zu zeigen, wie gedankenlos und blind sie durchs Leben gehen. Das ist der arrogante Handke wie eh und je.
Dabei bleibt er wie eh und je der Meister der Sprache, der mit der Sprache spielt, der an ihren Reichtum und die Variabilität erinnert. Bisweilen klingt das manieriert, wenn er die eigene Sprache reflektiert, etwa so: „Und trotzdem – ah, wieder trotzdem, du liebes ‚trotzdem‘“. Oder das Spiel mit „Spiel und Ernst“: „ein Spiel, ein ernstes Spiel, das Ernste Spiel. Kein ernsterer Ernst als im ernsten Spiel, allen Ernstes, ernstester alles Ernstes, spielfreudigster.“
Muss man vielleicht als Leserin oder Leser wirklich selbst alt sein, um sich auf diese Spiele einzulassen? Auf jeden Fall benötigt man genügend Muße, um sich durch einige Satzungetüme durchzuarbeiten, bis der Sinn sich erhellt. Mir hat das Spaß gemacht, manch anderem wird es auf die Nerven gehen.
Das Highlight der bewusst verfassten Satzungetüme ist für mich der folgende im Zusammenhang mit der Spielernatur des Großvaters: „Mich zu dieser Sache zu befragen, im Bezug auch zu anderen ‚Enkeln‘, im eigenen Land wie in anderen Ländern, in meiner Generation oder in einer späteren, läßt mich, im Relativieren und eben In-Beziehung-Setzen, da und dort, dann und wann, etwas wie ein paar Grundzüge eines, im übrigen, es sei denn, Friedrich Schiller kehrte zurück, wohl unverfaßbaren Dramas erahnen“.
Viel Vergnügen bei der Entzifferung. Mir ist es schließlich nach einigem Bemühen gelungen.
Handke nennt es selbst seine „chronische Wortklaubkrankheit“. Sie lässt ihn Ausdrucksalternativen finden, die die Fülle der Sprache sichtbar werden lassen, etwa wenn sich die gequälte Schlange „gewunden, gedreht, gestreckt, gekrümmt, spiralt, gekreiselt, gezüngelt“ hat.
Vielleicht ist das „Zwiegespräch“ doch nicht nur ein Buch für Alte, sondern ein Buch für alle, die der durch Anglizismen gequälten Sprache überdrüssig sind, die nichts übrig haben für „okaye“ Menschen, für gut „performen“, für sehr „committete“ Menschen. Vielleicht kann man ihm in dieser Hinsicht seine Arroganz verzeihen.
Bei allem Vorbehalt ist das schmale Bändchen voller verweisender Bezüge, die erst einmal erkannt werden wollen, und wenn es die „Weißdornblüten auf den wunden Augen “ sind. Schauen da Marcel Prousts „Weißdornhecken“ um die Ecke?
Ich habe dieses seltsame kleine Stück Prosa mit wachsendem Interesse gelesen. Der geringe Umfang lässt vertiefteres Lesen eher zu als ein Roman von 500 Seiten.
Es könnte sich lohnen, sich darauf einzulassen.
Das Buch ist im Suhrkamp Verlag erschienen, hat 67 Seiten und kostet 18 Euro.
Elke Trost
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