Nora Bossong, Jahrgang 1982, befasst sich in ihren Büchern vorrangig mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Problemen, unter anderem in dem Roman „Schutzzone„, der die weltweiten UN-Einsätze schildert. Das vorliegende Buch ist eine Bestandsaufnahme der politischen Selbstpositionierung ihrer Generation mit kritischen aber nicht denunzierenden Zügen.
Strukturell unterteilt Bossong ihr Buch in drei Teile: die Vergangenheit („Woher wir kommen“), die Gegenwart („Wo stehen wir?“) und die Zukunft („Wonach wir greifen“). Diese drei Teile bestehen jeweils aus einer Reihe weitgehend unabhängiger Essays zu jeweils einem Detailthema. Diese Essays, vor allem die im Gegenwartsteil, enthalten zum Teil Interviews mit bekannten Politikern ihrer Generation wie Paul Ziemiak (CDU), Christian Lindner (FDP) oder Katja Kipping (Die Linke) und verbinden Bossongs eigene Gedanken mit den Ausführungen ihrer Gesprächspartner.
Bossongs grundlegende Diagnose ihrer Genration lautet, dass sie es im bisherigen Leben zu leicht gehabt habe. Den Kalten Krieg mit der gegenseitigen nuklearen Abschreckung habe sie nicht mehr bewusst erlebt, dafür aber die Euphorie der neunziger Jahre mit der „Friedensdividende“ und Fukuyamas utopisch-irrigem „Ende der Geschichte“. Da Bossong sich im Wesentlichen auf ihre deutschen Generationsgenossen konzentriert, kommt noch ein ungebremster Wohlstand hinzu, der ihre Generation – ohne ihre eigene „Schuld“ – verwöhnt habe. Helmut Kohls „blühende Landschaften“ und die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die Bevölkerung der ehemaligen DDR thematisiert sie ebenso wie den immanenten Hochmut der sich als historische „Gewinner“ betrachtenden Westler. Selbst den Brexit diskutierten Bossong und ihre Altersgenossen, so ihre nachträgliche Einsicht, aus der Sicht der besserwissenden westdeutschen Demokratie-Moralisten. Gerne habe ihre Generation angesichts der Herausforderungen gesellschaftlicher Probleme die politische Distanzierung bei Yoga und Selbstfindung gepflegt. Man sei natürlich stets mit voller Überzeugung gegen jegliche militärische Aktivitäten oder gar Aufrüstung gewesen, Völkermorde wie in Ruanda oder Srebrenica jedoch gerne als unabänderliche Katastrophen hingenommen.
Im Gegenwartsteil entlarvt sie das von vielen Politikern ihrer Generation benutzte „Wir“ als ein paternalistisches „Ich und Ihr“, bei dem vorausgesetzt wird, dass das wohlbehütet aufgewachsene „Ich“ dieser Generation genau weiß, was gut für die Welt ist. Die – auch und gerade bei Linken vorhandene – Infragestellung der Demokratie kommt ebenso zur Sprache wie die Globalisierung und die sich verschärfende soziale Spaltung und die Fremdenfeindlichkeit. Die Diskussion über militärische Rüstung und Abschreckung führt sie eher mit Distanz und lässt unterschiedliche Meinungen ihrer Gesprächspartner über Afghanistan und andere Brennpunkte erst einmal ohne eigenen Standpunkt stehen. Schließlich entstand das Buch im Jahr 2021…..
Europa sieht sie als einmalige Chance, erkennt aber auch die Fliehkräfte in einzelnen Staaten und deren Gefahr für den Bestand der EU. Aber auch hier gilt: sie lässt Gesprächspartner zu Wort kommen und hält sich selbst zurück.
Im dritten Teil fordert sie von ihrer Generation so etwas wie eine Kurzfrist-Utopie, die zwar nicht den absoluten Glücksanspruch des Kommunismus erhebt, aber eine klare Vorstellung von einer Zukunftsordnung in den nächsten Dekaden enthält. Ihre Generation scheint ihr in dieser Beziehung zu pragmatisch auf den Augenblick bezogen zu sein, eine der abgehobenen Distanz zumindest verwandte Haltung. Außerdem wittert sie im politischen Umfeld ihrer Generation die Angst, einen Fehler zu machen, was angesichts der medialen Situation – „social media“ – ein Ende jeder Karriere bedeuten kann. Die angebliche „Geschmeidigkeit“ ihrer Generation, die man positiv als Anpassungsfähigkeit und negativ als Opportunismus interpretieren kann, hat für sie dort Grenzen, wo harte Entscheidungen gefragt sind. Die beschränken sich bei ihr noch auf eher soziale oder ökologische Themen, haben aber im März 2022 ganz andere Auswirkungen.
Generell ist zu diesem Buch anzumerken, dass es keine Analysen sondern lediglich eine Art Bestandsaufnahme enthält. Bossong hat sich offensichtlich bewusst darauf beschränkt, weil sie sich der Komplexität der weitgestreuten Themen bewusst ist. Wer seinen Blick thematisch verengt, kann eindeutig Stellung beziehen, wer jedoch ein so breites Spektrum wie Bossong abdeckt, muss sich auf die Beschreibung des Zustands beschränken oder ist von den Abhängigkeiten und Widersprüchen der einzelnen Themengebiete überfordert – Stichworte „Pazifismus“ und „Syrien“ (bzw. „Ukraine“). das hat dann natürlich zur Folge, dass Bossongs Ausführungen oft zwar durchaus engagiert, aber auch beliebig wirken. Mit ihrer Diagnose ihrer eigenen Generation hat sie zwar wahrscheinlich weitgehend Recht, aber ihre Forderungen haben oft den Charakter eines „man müsste eigentlich“. Doch kann man von so einem Buch eigentlich mehr verlangen?
Das Buch ist im Ullstein-Verlag erschienen, umfasst 238 Seiten und kostet19,99 Euro.
Frank Raudszus
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