So „geht“ die Schirn ins neue Jahr

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Das Gehen ist eine zentrale Fähigkeit des Menschen und war gleichzeitig Folge wie Ursache der Evolution zum „homo sapiens“. Mit der Fähigkeit der Fortbewegung auf zwei Extremitäten weitete sich der Blick auf die Welt, und die Hände wurden frei für Herstellung und Benutzung von Werkzeugen – sowie für die künstlerische Tätigkeit.

Sich verlierende Pflanzen

Eine Reihe zeitgenössischer Künstler setzt sich seit einiger Zeit intensiv mit der Eigenart, den Bedingungen und den Wirkungen des Gehens auseinander. Das Gehen bedeutet Überwindung des Raums, ja eigentlich die Schaffung desselben in der Wahrnehmung. Erst das Gehen durch eine sich wegen des stetigen Ortswechsels verändernde Umgebung verschafft dem gehenden Menschen die unterschiedlichen Perspektiven seiner Umwelt und ermöglicht ihm die Aneignung der Welt. Diese Erkenntnis haben über vierzig internationale Künstler beiderlei Geschlechts auf unterschiedlichste Weise in ihren Arbeiten verarbeitet, von denen die Kunsthalle Schirn etwa hundert in der Ausstellung „WALK!“ präsentiert.

Entfernt erinnert dieses Thema an den „Flaneur“ des späten 19. Jahrhunderts, wie ihn Baudelaire literarisch definierte und Marcel Proust oder Walter Benjamin weiter entwickelten. Doch der Flaneur war ein privilegierter Typus, der die Welt aus einer intellektuellen Perspektive betrachtete und sich dadurch gleichzeitig von ihr distanzierte. Die Arbeiten der Ausstellung „WALK!“ dagegen gehen in die Welt hinein, konfrontieren sich und die Betrachter mit den natürlichen, kulturellen, politischen und sozialen Gegebenheiten, wobei sie nie explizit Stellung beziehen – gar eine moralische! -, sondern die Bilder von sich aus wirken lassen.

„Schnäbelnde“ Hölzer

Denn Bilder bietet diese Ausstellung viele, jedoch nicht in der gewohnten musealen Form in Gestalt von Gemälden, Zeichnungen oder Skulpturen, also Übersetzungen durch die menschliche Kreativität, sondern Foto-Collagen und Video-Clips unterschiedlicher Ausgestaltung und Länge. Da sieht man die Füße eines Gehenden, der seine Stiefel als Angebinde der nackten Füße hinter sich her zieht; dann wieder bewegt sich ein junge Frau durch verfallene Hütten und weite Weidelandschaften einer menschenleeren südlichen Bergregion, wobei ihre Wanderung fast wie ein Passionsweg durch die Armut anmutet.

Eine andere Arbeit zeigt zwei Füße, die sich betont langsam durch eine grüne Wiese pflügen, wobei detailliert alle wichtigen medizinischen Daten des Fußeigners – Herzschlag, Atemfrequenz, Blutdruck – auf dem Bildschirm angezeigt werden. Eine Palette von spiralförmigen Farbdarstellungen auf Papier gibt eben diese Daten von anderen „Wanderungen“ wieder. Andere Videoclips zeigen auf multiplen Schirmen beliebige Straßenszenen einer südamerikanischen Stadt, wobei Stadtbild sowie Kleidung und Verhalten der Menschen Auskunft über die soziale Gemengelage Auskunft geben.

Fußspuren mit Panzerketten

Dann sind da die Spuren im feuchten Sand: Abdrücke verschiedener Schuhe, deren Profile eigene kleine Geschichten erzählen und deren Anordnung eine Ahnung von der Entstehung dieser Abdrücke vermitteln: in einem Fall sieht man eine Menge eng gedrängter Schuhabdrücke neben denen einer Panzerkette.

Eine andere Arbeit besteht aus vielen kleinen transparenten Folien – etwa die Umhüllung von Zigarettenschachteln -, die kleine Fundstücke von der Straße enthalten. Diese Funde ergaben sich während eines aufmerksamen Umherstreifens ohne Ziel – auch das eine Art des Gehens – und eröffnen eine völlig neue Sicht auf das Alltägliche. Für den Betrachter wirken diese Abfallprodukte des Konsums im ersten Augenblick wie kleine Geschenkpakete.

Ein weiterer „Hingucker“ sind die Paare von Holzstücken, die etwas über Kopfhöhe an verschiedenen Stellen an der Wand platziert sind. Kleine, hervorstehende Äste wirken wie Nasen und die beiden Holzstücke wie schnäbelnde Paare.

Überwachungsfotos

Auch der Überwachungsstaat ist ein Thema dieser Ausstellung. Man sieht Reihen von Fotos, die aus erhöhter Position an Straßenkreuzungen oder Plätzen aufgenommen wurden und das Verhalten der zufällig(?) vorbeikommenden Passanten gnadenlos aufzeichnen und archivieren. Auch diese Fotostrecken sind von keinem moralisch aufgeladenen Text begleitet, sondern sprechen für sich selbst.

Auch rein ästhetische Arbeiten ohne sozialen oder politischen Hintergrund findet man in dieser Ausstellung. So die großformatigen gerasterten Pflanzendarstellungen, die sich aus grüner Üppigkeit zum Bildende hin ins Nichts verlieren. Natürlich kann man hierin ein Abbildung der Umweltzerstörung sehen, tut dies jedoch freiwillig als Betrachter und wird nicht durch figurative Eindeutigkeit dazu gezwungen.

Fundstücke

Als Ergänzung zu dieser Ausstellung des Gehens hat der portugiesische Künstler Carlos Bunga in der Rotunde der Schirm unter dem Titel „I always tried to imagine my home“ eine zweite, innere Rotunde aus Pappkartons auf ausrangierten Möbeln installiert. Die Pappsäulen signalisieren die Vergänglichkeit aller Kunst, und folgerichtig wird diese Installation kurz vor Ende der Ausstellung in einem kreativen Akt „horizontalisiert“, sprich demontiert werden.

Diese Ausstellung vermittelt in ihrer unaufdringlichen Direktheit und Originalität vielfältige Eindrücke und bietet den Besuchern auch beim dritten Durchgang noch neue Einsichten und Überraschungen. Museale „Kunst“ wird man hier jedoch vergeblich suchen.

Die Ausstellung ist bis zum 22. Mai 2022 geöffnet. Weitere Informationen sind über die Webseite der Kunsthalle Schirn erhältlich.

Frank Raudszus

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