„Ihr Blick ist vom Vorübergehn der Scheiben so müd geworden, dass er nichts mehr hält“ – die leicht abgewandelte erste Strophe aus Rilkes „Panther“ könnte als Motto über der Frankfurter Inszenierung von Ibsens „Hedda Gabler“ stehen. Mateja Koleznik, die im Schauspiel Frankfurt bereits „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ inszeniert hat, geht jetzt noch weiter in die Vergangenheit zurück und versucht, den schwermütigen Frauendramen Ibsens neue Aspekte abzugewinnen.
Ibsen hatte in „Hedda Gabler“ eine Frau des konservativ-bürgerlichen Milieus Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Kontrast zwischen ihren Lebenserwartungen und der Realität konfrontiert. Hedda hat den langweiligen und wesentlich älteren Wissenschaftler Tesman nur wegen der zu erwartenden sozialen Stellung als zukünftige Professorengattin geheiratet. Als diese Karriere ins Wanken gerät, weil die Gremien einen Wettbewerb mit einem zweiten Kandidaten wünschen, steht auch ihre Zukunft auf dem Spiel. Zumal der Konkurrent ihres Mannes ausgerechnet ihr ehemaliger Liebhaber Lovborg ist, den sie trotz einer intensiven Beziehung wegen seines leichtsinnigen Lebenswandels und der somit fragwürdigen Berufsaussichten verlassen hatte. Nun droht er als geläuterter Rückkehrer und Verfasser eines außergewöhnlichen Buches ihr Lebensmodell zu zerstören. Als Lovborg mit Tesman und dem Juristen Brack einer Abendeinladung folgt, verfällt er wieder dem Alkohol und verursacht einen gesellschaftlichen Skandal, der ihm alle Zukunftschancen raubt. Dabei verliert er das Manuskript seines zweiten Buches, das wiederum Tesman findet und in bester Absicht mit nach Hause nimmt. Er ist zwar durchaus neidisch auf den Konkurrenten, aber stets korrekt. Hedda sieht jedoch die Chance einer Tat, die das Leben eines anderen Menschen entscheidend ändert. Als Lovborg sie noch einmal – mit Restalkohol im Blut – aufsucht und über den Verlust seines einzigen Manuskripts und seiner Zukunft klagt, verschweigt sie ihm die Wahrheit, bestätigt auf geradezu intrigant mitfühlende Art seine Verzweiflung, gibt ihm zum Abschied eine der Duell-Pistolen ihres Mannes und verbrennt das Manuskript.
Als Brack ihr von Lovborgs Tod – Unfall oder Suizid? – berichtet und durchblicken lässt, dass er die Zusammenhänge begriffen hat, spielt sie noch die ahnungslos Betroffene, doch als ihr Mann und Lovborgs diesem freundschaftlich verbundene Mitarbeiterin Thea fast begeistert an die Rekonstruktion des Manuskripts aus handschriftlichen Notizen gehen, erkennt sie, dass sie Lovborg nicht in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit gestoßen, sondern sozusagen posthum geadelt hat. Von Brack durchschaut und damit erpressbar, greift sie zur zweiten Duellpistole und erschießt sich.
Ibsen hat dieses Stück aus der Perspektive einer unterdrückten Frau des späten 19. Jahrhunderts geschrieben, die sozialen Erfolg nur durch eine meist von einem deutlichen Altersunterschied und gegenseitigem emotionalen Desinteresse geprägte Ehe erzielen konnte. Ibsens Frauen – so auch Hedda Gabler – befreien sich aus diesem Käfig durch entschlossene Taten, die auch im Scheitern enden können.
Da sich die gesellschaftliche Situation seitdem jedoch deutlich gewandelt hat, wählt Mateja Koleznik einen anderen Interpretationsansatz. Auch bei ihr steht Hedda (Anna Kubin) im Mittelpunkt des Geschehens, aber sie bewegt sich nicht mehr im Käfig der Konventionen, sondern im Glashaus der eigenen Langeweile. Dazu hat Raimond Orfeo Vogt einen Wintergarten mit zwei verglasten Seiten geschaffen, der sich bei Bedarf von der linken Bühnenseite bis zur Bühnenmitte verschieben lässt. Dieses Glashaus steht für die abgeschlossene Welt, die Hedda sich selbst geschaffen hat: eine Ehe mit Zukunftsaussichten aber ohne eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Die damit einhergehende grenzenlose Langeweile ist hier aber nicht mehr der gesellschaftlichen Unterdrückung geschuldet, sondern schlägt auf Hedda selbst zurück. Ibsen musste die Unterdrückung der Frau nicht explizit benennen; es reichte die Darstellung der Ehe und der dem Publikum bekannte gesellschaftliche Kontext.
Das ist heute so nicht mehr der Fall, und hier ist die erste Fehlstelle dieser Inszenierung zu konstatieren. Koleznik hat die Rolle des Ehemanns bewusst nicht als älteren Pedanten angelegt, sondern lässt den noch jungen Torsten Flassig als durchaus wendigen und aufmerksamen Mann agieren. Zumindest gibt sein Tesman seiner Ehefrau keinen Anlass zu tief sitzender Gleichgültigkeit. Gleichzeitig kleidet die für Kostüme zuständige Ana Savic-Gecan Anna Kubin in moderne Hosenanzüge mit gewagtem Decolletés, die sie eindeutig in die heutige Zeit versetzen. Damit mutiert Hedda Gabler von der von einem aktiven Berufsleben ausgeschlossenen Nur-Ehefrau des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Luxusgattin eines heutigen Karrierewissenschaftlers, die sich in ihrem Narzissmus einfach langweilt. Eine explizite Beschneidung ihrer eigenen Lebensgestaltung lässt sich aus dem Kontext dieser Inszenierung nicht mehr ableiten. Es mag den Typus einer freiwillig auf Selbständigkeit verzichtenden weil auf den sozialen Aufstieg des Mannes vertrauenden Frau geben, sicherlich stellt sie heute aber keinen die Gesellschaft prägenden Typus dar. Damit ist jedoch Ibsens Stück der Zahn gezogen.
Koleznik arbeitet noch mit anderen auffälligen Regiemitteln. So lässt sie viele Dialoge halb im „Off“ stattfinden, indem ein Dialogpartner unsichtbar bleibt. Oder aber ein Paar unterhält sich halblaut mit dem Rücken zum Publikum. Das soll offensichtlich die gestörte Kommunikation heutiger Prägung widerspiegeln, die sich oftmals über das Smartphone statt im physischen Gegenüber abspielt. Zwar verzichtet Koleznik konsequent auf jeden direkten Verweis auf heutige Requisiten, aber die indirekten Assoziationen sind nicht zu übersehen. Zu den kalkulierten Mechanismen heutiger Kommunikation passt auch, dass Edda ihren Mann in Anwesenheit Dritter unablässig drückt und küsst, ihn aber in reinen Zweiersituationen kühl abweist. Doch hat auch diese Manie eher ephemeren Stellenwert.
Neben der Fragwürdigkeit der Aussage dieser Inszenierung stören vor allem die bewusst leise geführten Dialoge. Trotz der Nutzung von Mikrophonen bleibt vor allem zu Beginn ein großer Teil der Gespräche akustisch unverständlich. Später stellt sich das Gehör zwar auf diese fast verschwörerisch leise Gesprächsführung ein und erlaubt besseres Verständnis, aber es bleibt anstrengend, den Dialogen zu folgen. Man fragt sich nach dem Zweck dieser Leisetreterei, kann aber keinen entdecken. Vielleicht ist sie als Verweis auf eine latente Scheu, ja: Angst vor direkter Kommunikation zu verstehen, doch das bleibt eine Spekulation, die sich nicht zwangsläufig aus dem Kontext ergibt.
Die Darsteller, allen voran Anna Kubin, geben ihr Bestes, diesen halbherzig aktualisierten Stoff zum Zünden zu bringen. Torsten Flassig gibt einen erstaunlich agilen Tesman, Andreas Vögler spielt Lovborg als innerlich zerrissenen Charakter, Tanja Merlin Graf verleiht Thea Elvsted eine aufgedreht naive Note, und Peter Schröder lässt den Ministerialrat Brack in einem trüben, erpresserisch angehauchten Licht erscheinen.
Nach eineinhalb Stunden ist man jedoch geneigt, Marcel Reich-Ranicki zu zitieren: der (nicht existente) Vorhang fällt, und viele Fragen bleiben offen.
Frank Raudszus
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