Hanya Yanagiharas dritter Roman „Zum Paradies“ ist wieder ein umfangreiches Werk von nahezu tausend Seiten geworden. Eigentlich sind es drei Romane, die hier vereint werden. Die Handlungen haben jedoch nichts miteinander zu tun.
Alle drei Romanideen spielen in New York am Washington Square. Der erste Teil beginnt im Jahr 1893 und beschreibt das Leben im Freistaat New York. Hier war alles möglich: Männer konnten Männer heiraten, Frauen Frauen. Kinder hat man aus Kinderheimen adoptiert. Es gab genügend Auswahl, da viele Familien aus den Kolonien flohen, um in den Freistaat zu gelangen. Das war höchst gefährlich, und oft kamen die Eltern dabei ums Leben. Sie hinterließen ihre Kinder, die in die Waisenhäuser kamen. Von dort wurden sie oft von homosexuellen Paaren adoptiert.
Im Mittelpunkt der Handlung steht David Bingham, der mit seinem wohlhabenden Großvater in einem palastähnlichen Gebäude mit reichlich Personal lebt. Davids Schwester ist mit einer Frau verheiratet, sein Bruder lebt mit einem Mann zusammen. Beide Paare haben Kinder adoptiert. Als heutiger Leser ist man immer wieder überrascht über die Selbstverständlichkeit des gleichgeschlechtlichen Zusammenlebens von Männern und Frauen. Damals war die Gleichberechtigung von Männern und Frauen offensichtlich fortschrittlicher als heute – zumindest im Freistaat New York.
David soll als Mittzwanziger standesgemäß verheiratet werden, und es findet sich ein älterer, verwitweter Mann aus gutem Hause. Doch David lernt per Zufall den jungen, gut aussehenden Klavierlehrer Edward kennen und verliebt sich Hals über Kopf in ihn.
Der zweite Teil spielt gut hundert Jahre später im Jahr 1993. Aids hat in der New Yorker Schwulenszene viele Opfer gefordert. Im Haus am Washington Square lebt der Rechtsanwalt Charles mit dem jüngeren David zusammen. Ein schwer an Krebs erkrankter Freund von Charles will sich bei einem großen Abendessen von seinen Freunden verabschieden. David hat jedoch Probleme mit dieser satten und aus seiner Sicht dekadenten New Yorker Gesellschaft, fühlt sich unwohl und wird auf sein eigenes Leben zurückgeworfen. Er ist auf Hawaii in ganz einfachen Verhältnissen aufgewachsen und kommt mit dem Kulturbruch nicht zu Rande. Der Leser erfährt von seinem Vorleben auf Hawaii aus einem ausführlichen Brief von Davids Vater.
Der dritte Teil schließlich wagt den Sprung in das Jahr 2093. Hier ist alles völlig anders. Das Land ist politisch zerrüttet, und ein autoritäres Regime überwacht die Menschen bis in ihr Privatleben hinein. Tödliche Epidemien haben die Menschen weitgehend voneinander isoliert. Das Internet ist gesperrt, die Stadt ist streng in verschiedene Zonen unterteilt, und Gefühle gibt es nicht mehr. Trotz einer weitgehenden Sinnentleerung überleben die Menschen irgendwie. Im Haus am Washington Square lebt der Wissenschaftler Charles Griffith mit seiner Enkelin Charlie. Das Mädel wird mit einem Mann verheiratet, der sich gut um sie kümmern soll, aber keinerlei Gefühle oder körperliche Nähe in die Beziehung investiert. Für Charlie ist das anfangs normal, doch durch eine neue Bekanntschaft erwachen in ihr eigene Gedanken.
Der Roman – oder besser: die drei Romanideen – erzählt viel über Menschen, ihr Leben und ihr Scheitern, aber auch über ihre Sehnsucht nach dem Paradies, das hier immer wieder mit Bezügen auf Hawaii durchschimmert. Die Autorin hat mehrere Jahre selbst auf Hawaii gelebt und die Naturschönheiten – die Berge und das Meer – geliebt. Dabei hat sie innere Freiheit gewonnen. Andererseits braucht sie das Großstadtleben. Das Thema Ausgrenzung kennt sie selbst zu Genüge aus ihrer Schulzeit, und das war offenbar auf Hawaii anders. Hawaii bleibt ihr Sehnsuchtsort, wie es auch im Roman anklingt. Yanagihara nimmt die Strömungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft auf und füllt sie durch ihre Romanfiguren mit prallem Leben.
Das Buch ist im Verlag Claassen erschienen, umfasst 896 Seiten und kostet 30 Euro.
Barbara Raudszus
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