Bereits die erste Szene spiegelt den Grundtenor dieser Neuinszenierung von Oscar Wildes Komödie „Bunbury“ wider: da stellt sich Béla Milan Uhrlau als Algernon vor den noch geschlossenen Vorhang und vertilgt mit wachsender Gier und sinkender Esskultur etwa fünf Sandwiches. Hier regiert der reine Slapstick ohne jeglichen Bezug zur Handlung oder gar Anspruch auf Hintergründigkeit und kassiert – leider – die erwarteten Lacher. Diese Regiestrategie zieht sich dann konsequent durch zweieinhalb Stunden und klappert dabei alle Stationen des Kalauers ab, dabei auch noch einige gute Szenen in Mitleidenschaft ziehend.
Oscar Wilde hat diese Komödie Ende des 19. Jahrhunderts als satirische Beschreibung der englischen Oberschicht verfasst, der er eine blasierte, nur auf Status und Geltung achtende, kurz: dekadente Lebensführung vorwarf. Im Mittelpunkt stehen zwei jüngere Männer eben dieser Oberschicht, die ihre Langeweile durch allerlei Lügengeschichten auflockern wollen. Jack lebt auf seinem Landgut und zieht von Zeit zu Zeit in die Stadt, um sich dort angeblich um seinen sozial fragwürdigen Bruder Ernst (Earnest) zu kümmern. Algernon dagegen lebt in der Stadt und hat einen kranken Freund Bunbury draußen auf dem Land erfunden, den er dort öfter besuchen muss. Als sich Algernon in Jacks Mündel Cecily und dieser in Algernons Schwester Gwendolyn verliebt, stehen beide vor dem gleichen Problem: beide Frauen wollen unbedingt einen Mann namens Ernst heiraten. Ähnlich wie im Deutschen hat der Name Earnest den Doppelsinn eines bloßen Vornamens und der Seriosität (um nicht zu sagen: Ernsthaftigkeit). Damit spielte Wilde offensichtlich auf die Selbst – und Fremdstilisierung der damaligen Männerwelt zu einer gravitätischen Ernsthaftigkeit ohne jede Lockerheit oder gar Esprit an. Auch die statische, auf sozialen Status fixierte Ideologie der damaligen Oberschicht dürfte dabei mitgespielt haben.
Wilde lässt jetzt unter den Beteiligten ein groteskes Verwirrspiel um den Namen „Earnest“ ausbrechen, bei dem die Frauen auf die Unabdingbarkeit des Namens pochen und die Männer darauf als eigenem Namen bestehen. Dabei geraten sie natürlich immer wieder in Konflikt mit der Realität ihrer richtigen Namen. Lady Bracknell, Algernons und Gwendolyns Mutter, schürt die Konflikte noch kräftig durch ihre Beachtung des gesellschaftlichen und finanziellen Status der jeweiligen Ehekandidaten, wobei Jacks fragliche Herkunft als Findelkind schon ein Ausschlusskriterium darstellt. Doch in diesem Fall nimmt Wilde eine literarische Anleihe bei Rossinis „Barbier von Sevilla“ auf und lässt das Ganze in einem bewusst grotesken „Happy enden“.
Soweit, so gut, was die Handlung im imperialen England um 1900 betrifft. Man fragt sich natürlich, was diese Komödie uns heute noch bedeuten kann. Man könnte sie in ihrem Zeitkolorit belassen, um in einer Art Rückschau zu zeigen, wie es damals zuging; man könnte sie aber auch aktualisieren, was angesichts der kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse zugegebenermaßen brachiale Regiemittel erfordern würde; und man könnte sie zur Farce verfremden, sozusagen als Karikatur ihrer selbst, dann aber ohne nachvollziehbare Aussage.
Regisseur Andreas Merz Raykov hat sich zu einer Melange aus diesen drei Möglichkeiten mit dem Schwerpunkt auf letzterer entschieden und damit die Vorlage zu einer platten Mischung von allem und nichts verrührt. Bei den Kostümen setzt er teilweise auf Klischees, teilweise auf Aktualisierung. Jack (Mathias Znidarek) trägt die Karikatur eines karierten englischen Anzugs aus der Zeit der Wildeschen Vorlage, Lady Bracknell tritt in einem überladenen Kostüm mit weit ausladendem Hut ähnlich historisch auf. Die beiden jungen Frauen dagegen sind eher mädchenhaft modern – Anabel Möbius als Cecily – oder emanzipiert – Marielle Layher als Gwendolyn in engem Hosenanzug – gekleidet. Das Ambiente des Bühnenbildes spiegelt ein großbürgerliches Zuhause ohne direkte zeitliche Zuordnung wider.
Die Dialoge hat die Regie durch zwar von der Handlung nicht begründete, aber wohlfeile weil politisch korrekte Elemente angereichert. So beklagt sich Cecily in eingestreuten Sätzen darüber, dass „wir“ – und damit meint sie die westliche Kultur – den Planeten ausbeuten und zerstören. Das stimmt zwar und trifft immer die Zustimmung des Publikums, hat aber weder mit Wildes Original noch mit der Handlung etwas zu tun. Und Merz Raykov gibt dem Affen Publikum noch mehr Zucker, wenn Jack auf die Frage nach seiner Wohnadresse Dieburg-Münster angibt. Lokalkolorit – wie schön!
Doch das wäre noch zu verkraften, wenn die Regie nicht alle Slapstickregister ziehen würde, die es zur Erzielung billiger Lacher gibt. So stolpert Jack alias Mathias Znidarec bei seinem Heiratsantrag an Gwendolyn nicht nur einmal über die Stufen, sondern wiederholt diesen motorischen Faux Pas ein halbes Dutzend mal, damit der Witz auch noch die letzten Besucher in den hinteren Reihen erreicht. Die beiden jungen Frauen platzen entweder vor feministischer Wut oder beleben ihre Gespräche durch grelle Lacher, die bewusst jegliche ironische Ambivalenz von vornherein ausschließen. Beachte: Ironie kann missverstanden werden, also ist sie bei einer modernen Inszenierung tunlichst zu vermeiden. Wo man sie im Text antrifft, ist sie durch ihre eigene Karikatur umgehend zu vernichten. Das gilt nicht nur für einzelne Szenen, sondern generell für die Charaktere der Protagonisten. Die beiden Lebemänner sind daher von vornherein als grenzdebile Dekadenzler angelegt, die permanent ihre eigene Unfähigkeit zu Markte tragen. Die Frauen dieser Schicht stehen ihnen dabei in nichts nach, lechzen sie doch nur nach Status und Selbstwerterhöhung.
Man fragt sich angesichts dieser Inszenierung, was die Regie bezweckt hat und was es zu demaskieren gilt. Wohl kaum die britische Gesellschaft der vorletzten Jahrhundertwende, weil hier keine zeittypischen Elemente verhandelt werden. Unsere aktuelle, sicherlich kritikwürdige Gesellschaft ebenso wenig, weil sich die Problematik der Wildeschen Vorlage dafür nicht eignet. Man diskreditiert mit dieser platten Karikatur eigentlich nur Wildes Stück, das zu seiner Zeit durchaus eine Aussage enthielt, aber hier zur Kalauerplattform degeneriert.
Der einzige Lichtblick in dieser Inszenierung ist Jörg Zirnstein als Gouvernante Miss Prism. Zwar zehrt die männlich ausgeführte Frauenrolle ebenfalls von dem KIischee „Charlys Tante“, aber Jörg Zirnstein füllt sie mit viel Gespür für die Befindlichkeit einer alternden, alleinstehenden Dienstbotin aus und liefert überdies noch zwei hörenswerte Chansons ab.
Man fragt sich am Ende, warum diese Kalauerparade ganze zweieinhalb Stunden des Abends einnehmen muss. In einer Stunde hätte man dieselben Lacher und genauso wenig Inhalt unterbringen können.
Frank Raudszus
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