Miguel de Cervantes´ Roman „Don Quichotte“ gilt als eines der bedeutendsten Werke der europäischen Literaturgeschichte. Cervantes parodierte dabei die damals vorherrschende nostalgische Verklärung des mittelalterlichen Ritterideals in der Gestalt des realitätsfremden Don Quichotte, der diese alten Zeiten wiederbeleben möchte und dabei von einer Peinlichkeit in die nächste gerät. Vor allem der berühmte Kampf gegen die Windmühlen ist im Laufe der Jahrhunderte zu einer stehenden Redewendung für sinnlose Aktivitäten geworden.
Der französische Komponist Jules Massenet (1842-1912) hat in seiner gleichnamigen Oper bereits das Spottbild korrigiert und die Geschichte dieses romantischen Idealisten unter Abänderung der literarischen Vorlage gegen den Strich gebürstet. Die französische Regisseurin Mariame Clément hat sich nun dieser Oper angenommen und Massenets Sicht auf den Helden noch einmal zugespitzt. Dabei spielt sie von Anfang bis Ende mit der Meta-Ebene der Inszenierung, indem sie die Inszenierung selbst geschickt in die Regie integriert.
Die Irritation beginnt bereits ganz am Anfang, wenn statt der Ouvertüre ein übergroßer Werbeclip auf dem Vorhang erscheint, der das übliche Männerbild in Form kleiner Raufereien und typisch männlicher Attitüden hinterfragt. Als dann zum Schluss noch unübersehbar der Markenname eines Rasierartikels erscheint, sind von den letzten Reihen zaghafte „Buh“-Rufe zu hören. Werbung im Theater? Das geht gar nicht. Doch dann empört sich im wieder aufgehellten Saal ein Mann in den ersten Reihen lautstark über die Herabwürdigung des Mannes in diesem Clip. Nimmt man das anfangs noch als Ausbruch eines empfindsamen Zuschauers, wird aufgrund der sich stetig und professionell (!) steigernden Lautstärke dieses „Querdenkers“ klar, dass der Protest zur Inszenierung gehört. Allerdings stellt er es sehr realitätsnah an, indem er einzelne Zuschauer zur Bestätigung seiner Ansicht drängt und damit wohl durchaus eine gewisse Beunruhigung erreicht. Ein kleiner Theaterskandal liegt in der Luft – bis ein anderer Zuschauer aus der ersten Reihe im Kostüm eines mittelalterlichen Ritters ihn durch Handauflegen beruhigt und ihn mit hinter die Bühne nimmt. Am Ende der Geschichte über falsch verstandenes Heldentum wird er wieder mit „Don Quichotte“ persönlich vor den Vorhang treten.
Mariame Clément lässt ihren Don Quichotte anschließend eine kleine Zeitreise antreten, indem sie die einzelnen Akte in unterschiedlichen Zeiten ansiedelt. Der erste Akt spielt noch ganz konventionell vor dem Bühnenbild eines spanischen Bergdorfes aus Cervantes´ Zeit und mit dem Chor in entsprechenden historischen Kostümen. Don Quichotte (Johannes Sekhoon Moon) tritt im ritterlichen Spottkostüm mit verwildertem Haupthaar auf und konkurriert bei Dulcinea mit den jungen Galanen des Ortes. Doch den Spott über die Zurückweisung erträgt er mit stolzer Miene und nimmt den Auftrag entgegen, zusammen mit seinem Diener Sancho Pansa Dulcineas geraubten Schmuck zurückzuholen.
Der zweite Akt versetzt dann Liebhabern der klassischen historischen Oper einen Schock: Don Quichote alias Johannes Sekhoon Moon und Sancho Pansa (David Stout) befinden sich in dem schäbigen Badezimmer heutiger Machart, das wir noch aus der Oper „Lucrezia“ kennen. Sancho im Rocker-Look mit Laptop auf den Knien und der Toilette als Sitzgelegenheit, sein Herr bei der Nassrasur vor dem Spiegel des Publikums. An der Rückwand läuft ein Ventilator, den Don Quichote schließlich als feindlichen Riesen – Stichwort „Windmühle“ – identifiziert und der sich dann auch in überdimensionierter Gestalt als solcher entpuppt und zum Kampf nötigt. Vorher trägt David Stout noch, ganz im Sinne Leporellos, seine Betrachtungen über seinen Herrn vor.
Die Rückeroberung des Schmucks erfolgt dann im dritten Akt in einem Ambiente aus Graffiti, Müll und Kleinkriminellen, die unsere beiden Helden jedoch nicht verprügeln sondern sich von Don Quichotte – im Batman-Kostüm! – dank seines hehren Idealismus zur Einkehr und Rückgabe des Schmucks genötigt sehen. Hier kippt die übliche „Quichotterie“ von der Lächerlichkeit in einen selbstlosen Idealismus mit utopischen Auswirkungen.
Im vierten Akt treibt Mariame Clément die Aktualisierung auf die Spitze. Die ganze Gesellschaft bevölkert ein modernes Großraumbüro, in dem die Männer ihre Chefin Dulcinea unter gegenseitigen Seitenhieben um- und anschwärmen. Hier liefern sich David Pichlmaier als Juan und Michael Pegher als Rodriguez Dauergefechte konkurrierender Verehrer, und Juliana Zara (sic!) sowie Jana Baumeister als Pedro und Garcias unterlaufen in Männerkostümen den Machokult spanischer Provenienz. Don Quichotte wirkt in seinem kariertem Pollunder und glatter blonder Perücke im Vergleich zu dem im lockeren Büro-Outfit auftretenden Sancho Pansa eher wie dessen ängstlicher Laufbursche und muss von diesem erst unter einem Schreibtisch hervorgezogen werden. Doch dann zeigt Quichotte wieder den idealistischen Stolz des Verlierers, als Dulcinea nach der alle überraschenden Rückgabe des Schmucks seinen Heiratsantrag abweist. Seine gefasste Aufnahme ihrer Absage weckt bei ihr schließlich Bewunderung – wenn auch keine Liebe. Doch als beschämendes Beispiel für die anderen Verehrer dient er ihr immer noch sehr gut. Fast möchte man die ketzerische Frage stellen, was denn Dulcinea alias Mariame Clément von einem Heiratskandidaten noch erwartet, wenn er alle Macho- und Chauvi-Attitüden großherzig ablegt und damit sogar ihre Bewunderung erntet. Fehlt da vielleicht doch das Testeron?
Den Tod Don Quichottes im letzten Akt inszeniert Clément als Netflix-Serie, will heißen in einer Guckkasten-Bühne, die verdächtig einem Bildschirm ähnelt – sei es ein Fernseher oder ein Computer-Bildschirm. Sancho Pansa hat alle bissigen Bemerkungen vergessen und begleitet die letzten Augenblicke seines Herrn mit Ehrerbietung und – ja:einer gewissen Liebe. Mit dieser letzten Szene adelt die Regisseurin die von ihren falschen Männlichkeitsidealen geheilten Protagonisten, und es stirbt sozusagen nicht die Person Don Quichote sondern das alte Prinzip „Mann“. Mit einigem Abstand zu dieser durchaus konsequenten Inszenierung drängt sich jedoch die alte Weisheit auf: „Der König ist tot, es lebe der König“.
Mariame Clément hat mit dieser Inszenierung einen durchaus gelungenen Umgang mit dem Thema im Allgemeinen und dieser Oper im Speziellen gefunden. Sie vermeidet sowohl holzschnittartige ideologische Zuspitzungen wie falsche Sentimentalitäten. Der stets durchschimmernde Humor in fast allen Szenen rettet sie vor diesen beiden Extremen. Sie lässt sowohl Don Quichotte, dem „falschen Ritter“, als auch seinem proletarischen Genossen Sancho Panso ihre Würde, und selbst Dulcineas halbseidene Verehrer denunziert sie nicht. Das geht jedoch nie zu Lasten der weiblichen Hauptperson, die sich bis zum Schluss als Gegenspielerin des Titelhelden gut zu wehren weiß.
Das Ensemble geht den Regieweg gut mit und zeigt ausgesprochene Spielfreude. Johannes Seokoon Moon verlässt nie den schmalen Grat zwischen platter Parodie und falscher Heroisierung der Titelrolle, und David Stout verleiht seinem Sancho Pansa ein breites Spektrum emotionalen Ausdrucks. Solgerd Isalv beherrscht in den ihr gewidmeten Szenen die Bühne, ohne andere an die Wand zu spielen, und David Pichlmaier glänzt sowohl als unglücklich kämpfender Fechter wie auch als leicht aufdringlicher Verehrer, der Dulcinea in der Büroküche trotz „Metoo“ etwas zu beharrlich nachrückt. Der Chor verleiht vor allem den kopfstarken Szenen viel optische und akustische Lebendigkeit.
Daniel Cohen trägt am Dirigentenpult viel zur Transparenz und richtigen Dosierung der Musik bei. Die lang gezogenen, bisweilen emotionsgeladenen Bögen von Massenets Musik verleihen der Szenerie auf der Bühne genau den richtigen musikalischen Unterbau und lassen dabei genug Raum zur Entfaltung der jeweiligen Gesangsdarbietungen.
Das Publikum zeigte sich sehr angetan und spendete kräftigen Beifall für alle Beteiligten.
Frank Raudszus
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