Amos Oz (1939-2018) war einer der bekanntesten Schriftsteller des jungen Staates Israel. Seine Eltern und Großeltern waren bereits Anfang der dreißiger Jahre aus Litauen nach Palästina ausgewandert und entgingen so dem Holocaust. Erst als Erwachsener legte Oz seinen deutschen Geburtsnamen Klausner ab und nahm den Nachnamen Oz an.
In dem vorliegenden Buch lässt Oz seine Kindheit von der frühen Nachkriegszeit – etwa 1946 – bis zum Tod seiner Mutter im Jahr 1952 wiederauferstehen. Er erinnert sich an die engen und dürftigen Unterkünfte für osteuropäische Einwanderer in einem Randbezirk Jerusalems und den täglichen Kampf um die nötigste Versorgung der kleinen Familie. In der kleinen Kellerwohnung lebte er in einer winzigen Kammer, während seine Eltern sich das andere Zimmer als Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer durch dauerndes Umräumen einrichteten. Sehr lebendig sind Oz auch noch seine Großeltern in Erinnerung, die noch stark der osteuropäischen jüdischen Sprache und Kultur verhaftet waren, und Person für Person steigen auch die ebenfalls aus Osteuropa stammenden Mitbürger der näheren Umgebung aus der Erinnerung hervor. Armut und Entbehrung kennzeichnen die ersten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, die in den palästinensischen Gebieten noch von den Engländern geprägt waren. Bereits der kleine Amos erfährt aus den Gesprächen der Erwachsenen einiges über den Widerstand gegen die den eingewanderten Juden nicht gut gesonnenen Engländer und gegen die Araber, die aus nahe liegenden Gründen von vornherein gegen die Zuwanderung von Juden aus Europa agierten.
Natürlich prägen vor allem die Eltern Leben und Weltbild des kleinen Amos. Sein Vater hatte stets von einer Karriere als Geisteswissenschaftler bis hin zu einer Professur wie sein Onkel Klausner geträumt, muss sich aber widerstrebend mit der Realität eines Angestelltendaseins in der israelischen Nationalbibliothek abfinden. Seine intelligente und feinsinnige Mutter, die er als solche natürlich als Kind noch nicht erkennt, leidet unter den sowohl materiell als auch intellektuell sehr eingeschränkten Lebensbedingungen im noch nicht existenten Staat Israel und trauert ihrer Heimatstadt Rowno in Ostpolen nach. Der kleine Amos sieht sie von einer anfangs noch tatkräftigen und umsichtigen Hausfrau langsam aber stetig zu einer von Depressionen geplagten Frau absinken, die unter Schlaflosigkeit leidet und ganze Tage und Nächte auf einem Stuhl am Fenster verbringt. Mehr und mehr müssen der mittlerweile zehnjährige Amos und sein Vater den Haushalt und das tägliche Leben alleine meistern.
Amos Vater verliert trotz dieser familiären Probleme nie seine Lebenslust, sein Redebedürfnis und seinen persönlichen wie politischen Optimismus. In leidenschaftlichen Diskussionen im Kreise der Freunde und Schicksalsgenossen werden die Probleme und Gefährdungen des jungen Staatsgebildes Israel diskutiert, und der Vater erkämpft sich trotz der sich verfestigenden Depressionen seiner Frau ein eigenes abendliches Privatleben, wovon der kleine Amos nur eine dumpfe, ihn beunruhigende Ahnung einfängt.
Mit den letzten Monaten, Wochen und Tagen seiner Mutter schließt Amos Oz dann diese Rückschau auf. Noch einmal schildert er ihre wachen und Optimismus verbreitenden Aufschwünge, denen dann jedoch wieder Abstürzen in tiefe Schwermut folgen. Die Ärzte können keinen medizinischen Grund für Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und Antriebsarmut diagnostizieren und verordnen ihr immer stärkere Mittel. Heute würde man wahrscheinlich von schweren Depressionen reden, aber diesen Begriff kannte man damals wohl noch nicht. Am Ende wird – zumindest in diesem (Hör-)Buch – nicht einmal klar, ob seine Mutter an einer unabsichtlichen Überdosis an Medikamenten oder an einem Suizid starb.
Amos Oz setzt seinen Eltern mit dieser autobiographischen Rückschau noch einmal ein auch in kritischen Passagen stets liebevolles Denkmal voller guter Erinnerungen und Hochachtung vor der Leistung dieser Generation, die zu Hause alles aufgab und in einem fremden, ihnen feindlich gesonnenen Land von vorne begannen. Diese Generation hat den Grundstein gelegt für ein vitales, zukunftsorientiertes Israel, das zwar immer noch mit großen Problemen konfrontiert ist, aber auch über die Fähigkeit zu deren Lösung verfügt.
Das von dem bekannten Schauspieler Ulrich Matthes gelesen Hörbuch ist im Hörverlag erschienen, bietet 7 Stunden und 24 Minuten Hörgenuss und kostet 24,95 Euro.
Frank Raudszus
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