„König Lear“ ist eine der ergreifendsten und konsequentesten Tragödien Shakespeares, die man auf deutschen Bühnen leider zu selten sieht. Über Jahrzehnte haben es sich Regisseure zur Aufgabe gemacht, große Bühnenstoffe neu zu deuten und gegebenenfalls auch inhaltlich zu ändern, was immer wieder zu heftigen Diskussionen über Werktreue und Respekt gegenüber dem Original führte. Seit einiger Zeit ist jedoch zu beobachten, dass sich diese Umdeutung von der Regieebene auf die Autoren verlagert hat. So läuft in Darmstadt seit kurzem Tue Bierings Neufassung von Shakespeares „Hamlet“ unter dem Titel „Prince of Denmark„, das Shakespeares Original in eine Satire über dessen Inszenierung in einem Theater umwandelt.
Ähnlich verfährt der Niederländer Tom Lanoye mit Shakespeares „König Lear“. Auch er umgeht den Vorwurf des Verstoßes gegen die Werktreue, in dem er das Original zwar als Vorlage nimmt und sich auch eng an den Inhalt anlehnt, aber daraus ein eigenständiges Stück entwickelt. Seine Version ist als Neudeutung und Hommage gleichermaßen gedacht und umgeht so den Verdacht der interpretatorischen Vergewaltigung des Originals.
Lanoye reduziert das Personaltableau deutlich. Der Handlungsstrang der Familie Gloucester entfällt vollständig und hinterlässt nur einen Obdachlosen als Erinnerung an den vom eigenen Bruder verjagten Edgar. Auch der bei Shakespeare noch umfangreiche Hofstaat wird auf Kent und den Narr des Königs verkleinert. Dazu kommen – zeitgeistgemäß – die Verlagerung in unsere Zeit sowie Vertauschung der Geschlechter.
Hier ist es Unternehmenschefin Elisabeth Lear (Karin Klein), die ihren weltumspannenden Konzern auf ihre drei Söhne aufteilen und sich auf einen Aufsichtsratsposten zurückziehen will. Als die machtbewusste Frau von ihren beiden älteren Söhnen auf die Liebesbefragung konventionelle Lippenbekenntnisse, von ihrem jüngsten und liebsten Sohn Cornald (Marielle Layher) jedoch eine Verweigerung gestanzter Liebesbeteuerungen erfährt, verbannt sie ihn und teilt die Firma auf die beiden älteren Söhne auf. Der sie wegen ihrer Strenge ermahnende Berater Kent (Hubert Schlemmer) wird auch gleich gefeuert. Einmal von der Macht getrennt, wird Elisabeth zum Opfer ihrer eigenen Kinder.
Regisseur Gustav Rueb hat von seinem Bühnenmeister Sven Scheffler in den Kammerspielen eine zweigeteilte Bühne aufbauen lassen. Am linken Bühnenrand zeugt ein üppiges Boudoir von der Stellung der Firmenchefin. Hier spielen die ersten Szenen, in denen sie noch ihre Macht ausspielt und sich für ihre Auftritte von Olga (Mona Kloos), ihrer Betreuerin und späteren Pflegerin, aufwändig herrichten lässt. Die Szenen auf dieser Bühne und – später – hinter der Bühne werden per Video aufgenommen und in Echtzeit auf die Rückwand der zentralen Bühne projiziert. Hier setzt schon eine Kritik an: Videos ergeben dort Sinn, wo man Hintergrundszenen zeigen will, doch später werden auch die Szenen auf der Hauptbühne live aufgenommen und abgespielt. Hier wird das Video zum Selbstzweck, da es weder für eine Sichtbarmachung noch für bessere Verständlichkeit erforderlich ist. Ähnliches gilt für die gesprochenen Texte, die vollständig auf einem Bildschirm angezeigt werden, obwohl die Darsteller durchweg gut zu verstehen sind. Auch diese laufenden Texte wirken eher störend als erhellend.
Dagegen kann man der Gebärdensprache, mit der Olga vor allem zu Beginn alle gesprochen Texte ins Publikum überträgt, durchaus als kritische Regiemaßnahme werten. Mona Kloos wird hier zur Marketingabteilung der Firmenchefin, indem sie deren für normale Menschen nicht mehr verständlichen Verlautbarungen aus den Höhen der Konzernspitze auf verständliche, weil emotionale Art an ein „gehörloses“ Publikum weiterleitet.
Ein Problem dieser Neufassung besteht darin, dass Lear quasi sofort nach der Übergabe der Firmenleitung einer nicht nachvollziehbaren geistigen Umnachtung verfällt. Der Verzicht auf den Gloucester-Strang verdichtet die Abläufe auch zeitlich derartig, dass sofort die Szenen mit dem beginnenden Verfall der Hauptperson einsetzen. Außerdem ist es für die Logik nicht förderlich, dass Elisabeth zu Beginn ihrer Erkrankung noch im Rollstuhl sitzt, später aber sogar über Autos klettert.
Das Unwetter in der Heide des Originals wird hier zu einer klimabedingten Katastrophe mit apokalyptischen Ausmaßen. Tom Lanoye hat den Text zu diesem Zweck um einige Hinweise auf Überschwemmungen und Anstieg des Meeresspiegels ergänzt, walzt dieses Nebenthema jedoch glücklicherweise nicht aus. Man weiß, was gemeint ist. Karin Klein und Mona Kloos irren hilflos durch eine endzeitliche Trümmerlandschaft und finden in einem verbeulten Auto in dem obdachlosen Banker einen letzten Gruß aus Shakespeares Originalversion.
Wie auch bei Shakespeare ist das ganze Stück auf Lear zugeschnitten. Karin Klein leistet in dieser Rolle Schwerstarbeit – sowohl physisch als auch psychisch. Immer wieder wechselt ihre Figur zwischen Wahnsinn und lichten Momenten, und es gilt, diese Wechsel nicht nur glaubhaft darzustellen, sondern auch das Verhältnis zwischen hell und dunkel stetig zu letzterem zu verschieben. Die Darstellung solch extremer seelischer Zustände ist eine besondere Herausforderung, doch Karin Klein meistert sie auf bewundernswerte Weise. Sie verkörpert überzeugend einen leidenden Menschen, der an sich und seiner Familie verzweifelt. Dabei wird in dieser Inszenierung deutlich, dass nicht nur die undankbaren Söhne und deren Ehefrauen die Schuldigen sind, sondern dass Elisabeth durch ihre Verhärtung und ihre erratischen Ausbrüche die verhängnisvolle Entwicklung selbst mit verursacht. Dass ihre Söhne, selbst mit der Führung der taumelnden Firma überfordert und ums eigene Überleben kämpfend, eine geradezu weltmännische Skrupellosigkeit an den Tag legen, ist unübersehbar, aber die Ursachen liegen auch tiefer.
Doch Tom Lanoye ging es offensichtlich nicht um die Aufteilung der Schuld am Schicksal der Firma und ihrer ehemaligen Chefin. Auch seine Fassung ist in erster Linie Shakespeare verpflichtet und dessen Darstellung einer menschlichen Tragödie, bei der letztlich alle verlieren und am Schluss kein Stein auf dem anderen bleibt. Dinge wie Finanzkapitalismus und Klimawandel werden zwar angesprochen, aber nicht zu zentralen Themen gemacht. Auch bei Lanoye und der Darmstädter Inszenierung seiner Lear-Version geht es um die Abgründe menschlicher Beziehungen und die latente Neigung, auch die engsten Familienmitglieder zu verraten, um selbst zu überleben.
Neben Karin Klein als Elisabeth Lear können sich Torsten Loeb als oberflächlicher Lebemann Gregory und Béla Milan Uhrlau als sein intriganter jüngerer Bruder Hendrik profilieren. Ihre Figuren stehen von Beginn an in einem mehr oder minder versteckten Machtkampf und scheuen vor keinem Mittel zurück. Edda Wiersch spielt mit Gregorys Frau Alma die treffend genaue Figur der Ehefrau des Erstgeborenen, die aus dem Hintergrund ihren Mann antreibt, seinen Bruder auszubooten. Annabel Möbius´ Ehefrau von Hendrik dagegen zerbricht sowohl an den Charakteren dieser Familie als auch an der eigenen Fähigkeit, denselben Grad der Verschlagenheit zu entwickeln wie ihre Schwägerin. Hubert Schlemmer verleiht seiner Figur Kent nicht nur aufrechte Seriosität, sondern stattet sie noch mit dem unausgesprochenen Verdacht aus, der Vater von Cornald zu sein, ein weiterer Verweis auf eine Nebenhandlung in Shakespeares Original. Hans-Christian Hegewalds obdachlosen Banker kommt dagegen als verwirrter Späthippie daher und ist wohl bewusst als Gegenmodell zu der Unternehmerfamilie gedacht. Mariella Layher spielt den jungen Cornald zwar überzeugend, hat jedoch wegen der begrenzten Auftritte zu wenig Möglichkeiten, diese Rolle wirklich zu gestalten.
Bleibt noch zu erwähnen, dass Tom Lanoye sich über weite Strecken um einen Shakespearschen „Originalsound“ bemüht, will heißen, vor allem die Monologe sind metrisch eng an dem Original orientiert und spiegeln auch dessen Inhalte wider, wo immer es passt. Da das Grundthema nicht geändert wurde, gibt es eine ganze Reihe von Szenen, in denen der „echte“ Shakespeare, wenn auch in einer modernen Übersetzung, zum Vorschein kommt.
Die musikalische Untermalung, oder besser gesagt: Dramatisierung erfolgt durch den Schlagzeuger Elija Kaufmann, der meist mitten in der Bühnenszenerie spielt.
Am Ende viel Beifall, vor allem für Karin Klein.
Frank Raudszus
No comments yet.