Es gibt gute Bücher, und es gibt furchtbare Bücher. Gibt es aber auch gleichzeitig gute und furchtbare Bücher – einmal abgesehen von den umgangssprachlich „furchtbar guten“ Büchern? Durchaus, und mit Sergej Lebedjews „Das perfekte Gift“ liegt ein solches Buch vor. Es trägt zwar den Gattungsnamen „Roman“ und enthält auch eine klassische Romanhandlung, aber im Grunde genommen ist es ein Sachbuch mit fiktiven Personen über chemische Waffen und staatlich angeordnete Morde. Der Wahl-Berliner Lebendjew wählt für die Handlung auch kein erfundenes Land, sondern siedelt sie in seiner ehemaligen Heimat Russland an und zeigt damit ein ungeschminktes, für manche deutschen Leser wohl auch nicht ins Bild passendes Bild des heutigen Russlands.
Im Mittelpunkt der Handlung steht Kalitin, ein russischer Chemiker, der noch in der UdSSR jahrzehntelang an einem abgelegenen, rigoros von der Umgebung abgeschirmten Ort an der Entwicklung chemischer Gifte gearbeitet hat, die bei den Opfern keinerlei Spuren hinterlassen. Seine Flucht in den Westen Anfang der neunziger Jahre erfolgte nicht aus Enttäuschung über den real existierenden Sozialismus oder gar aus Protest gegen die dort üblichen politischen und gesellschaftlichen Praktiken, sondern lediglich wegen der Streichung aller Forschungsgelder und der dadurch bedingten Beendigung seiner aussichtsreichen Arbeiten. Seine Hoffnung auf eine nahtlose Nutzung seiner Kenntnisse durch die westlichen Institutionen erfüllten sich jedoch nicht, da der Westen ihn offensichtlich eher als Gefahr denn als Gewinn betrachtete. Er lebt irgendwann im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhundert als Rentner mit neuer Identität an einem verschlafenen Ort in den deutschen Bergen – einige Hinweise deuten auf den Bayerischen Wald – und wird zu Beginn der Handlung mit einer Krebsdiagnose konfrontiert, die ihm nur noch eine sehr begrenzte Restlebenszeit einräumt.
Auf der anderen Seite stehen die Vertreter der russischen Staatssicherheit, die ihm seine Flucht nicht verziehen haben und seinen Tod planen. Als die westlichen Behörden ihn anlässlich des ungeklärten Todes eines anderen ehemaligen UdSSR-Bürgers als Berater hinzuziehen, sickert diese Information über ihn und seinen derzeitigen Aufenthaltsort an die Russen durch, und man plant umgehend seine Liquidierung. Nicht ohne einen Schuss zynischen Humors wählt man dafür ausgerechnet das von ihm entwickelte, nicht nachzuweisende tödliche Serum aus. Zwei Offiziere der Sicherheitsbehörden sollen ihm dies verabreichen, nachdem sie unter falschen Namen nach Deutschland eingereist sind.
Mit diesen Randbedingungen entwickelt Lebedjew ansatzweise einen Thriller, der im strengen Wechsel der Kapitel jeweils den einsamen Flüchtling und seine beiden Verfolger beschreibt. Dabei wird jedoch schnell klar, dass es Lebedjew weniger um einen klassischen Thriller mit gegenseitigem Austricksen, Schießereien und Schlägereien geht, sondern vor allem um die psychische Struktur der Protagonisten. Bereits nach wenigen Kapitel zeigt sich, dass es hier nicht um einen Kampf „Gut“ gegen „Böse“ geht, sondern dass sich Vertreter des „Bösen“ gegenseitig bekämpfen. Doch Lebedjew will auch mit dieser Gegenüberstellung nicht etwa aus der Sicht des „guten“ Autors die gegenseitige Vernichtung des Bösen feiern, sondern die Struktur eines totalitären Systems und vor allem dessen existentiellen Auswirkungen auf die Psyche ihrer Untertanen offenlegen.
Der allein lebende und kinderlose Kalitin sieht sich nach der Krebsdiagnose mit seinem bisherigen Lebenslauf konfrontiert, jedoch weniger wegen eines schlechten Gewissens als wegen der kruden Endlichkeit. Die endgültige Absage an eine zweite Karriere als „Meister des Todes“ lässt ihn fast nostalgisch an seine Zeit auf der einsamen Forschungsinsel in der UdSSR denken. Dort durfte man alles, was man sich wissenschaftlich erträumte. Normative Vorgaben in Gestalt einer allgemein menschlichen Berufsethik gab es nicht. Die Politik verlangte perfekte Waffen, wobei die Grundsätze des Sozialismus aus pragmatischen Gründen hintan gestellt wurden. Die ausgewählten Wissenschaftler waren von Kindheit an an eine normativ neutrale Welt gewöhnt. Alleiniges Ziel war zwar, den Sozialismus zu verteidigen und auf der ganzen Welt zu verbreiten, aber längst hatte das Machtbewusstsein als Selbstzweck die sozialistische Utopie ersetzt. Gut und richtig war, was das „System“ von den Wissenschaftlern verlangte, und diese hatten dafür den technokratischen Vorteil der „freien Hand“. Das gipfelte dann in den Gliederpuppen, die man zur Erweiterung der umfangreichen Tierversuche heranzog: Kriminelle aus den Gefängnissen, an denen man vorgeblich neue Medikamente testen wollten. Über den Grad der Kriminalität der Gefängnisinsassen der UdSSR kann man sich dabei seine eigenen Gedanken machen. Kalitin empfindet jedoch noch jetzt, über zwei Jahrzehnte später, die Verwendung dieser dem Tode geweihten „Gliederpuppen“ als Versuchstiere nicht viel anders als die von Mäusen und Ratten.
Ganz ähnlich sind seine beiden Verfolger strukturiert, die sich natürlich – beiderseits wissentlich! – gegenseitig überwachen. Das grundsätzliche, vom Staat geforderte (nicht nur geförderte) und skrupellos genutzte Misstrauen unter Kollegen ist ihnen zum zweiten Wesen geworden und spielt bei allen Handlungen eine wichtige Rolle. Man geht fast kumpelhaft miteinander um, weiß aber gleichzeitig um die Spitzelfunktion des anderen und bringt die eigene dagegen unterschwellig in Stellung. Die Liquidierung eines vor Jahrzehnten geflohenen „Objekts“ stellt für sie kein ethisches Problem sondern eine technokratische Herausforderung dar, die man im Dienst der eigenen Karriere möglichst perfekt zu erledigen hat. Nicht nur erlaubt sondern geradezu zwingend ist alles, was das staatliche System verlangt. Diese Offiziere sind vollständig auf die Befolgung jedweder Befehle dieses Systems konditioniert und kommen überhaupt nicht auf die Idee des Zweifels. Sie würden wahrscheinlich auch Mitglieder der eigenen Familie liquidieren, wenn auch mit Bedauern. So gestaltet sich die Reise von Russland nach Deutschland per Flugzeug und Leihwagen wegen der Aufgabe eher wie eine anspruchsvolle Geschäftsreise denn wie eine seelische belastende Prüfung. Die beiden tauschen trockene Scherze aus und besuchen bei einem Zwangsaufenthalt wegen eines Erdrutsches noch gemeinsam ein einschlägiges Etablissement.
So lässt Lebedjew Täter und Opfer immer näher aufeinander zu rücken und erweckt beim Leser damit Thriller-Erwartungen. Unbewusst spekuliert man bereits, wer überlebt und wer wie sterben muss. Doch dann tritt als dritte Kraft noch ein ehemals polnischer Priester hinzu, der selbst als idealistischer Theologe einst Opfer der kommunistischen Machthaber war und jetzt als alternder Mann an Kalitins verschlafenem Wohnort noch eine religiöse Grundversorgung bietet. Mit diesem Priester stellt Lebedjew den beiden eiskalten Nihilisten unerwartet einen Vertreter christlicher Demut gegenüber. Doch ihm geht es dabei nicht um ausufernde Diskussionen über – im Wortsinn – Gott und die Welt, die noch einmal das „Böse“ und das „Gute“ thematisieren, sondern er stellt diesen Gottesmann lediglich als kleines, im kalten Wind der Realität schwankendes, ein wenig Hoffnung gebendes Gegenmodell dar.
Das Ende kommt dann nicht als großer „Showdown“, wie man – durch entsprechende Kino-Thriller verdorben – annimmt, sondern eher banal oder – philosophisch ausgedrückt – kontingent daher. Es geht zwar faktisch in etwa gemäß den Erwartungen aus, jedoch weniger dramatisch, ja fast lakonisch-knapp wie in einem Epilog. Lebedjew will offensichtlich bewusst jede Assoziation an entsprechende „Blockbuster“-Thriller vermeiden.
Das Buch ist deswegen „furchtbar“, weil es die völlige Absenz jeglicher Ethik oder Moral zur Schau stellt, ohne sie sofort mit anklagender moralischer Geste zu verurteilen. Die Darstellung des Grausigen sollte eigentlich als Mahnung reichen wie im Fall des in diesem Roman geschickt integrierten Auschwitz, doch manchen Lesern wird die explizite, der Leserseele schmeichelnde moralische Empörung fehlen. Nicht zuletzt dieser Verzicht ist eines der Gütemerkmale dieses Buches.
Das Buch ist im Verlag S.Fischer erschienen, umfasst 255 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
No comments yet.