Die naturwissenschaftliche Forschung hat in den letzten zwei Jahrhunderten einen Rekord an den anderen gereiht und schließlich bei der Wasserstoffbombe und der Gentechnik höchst fragwürdige Entwicklungen hervorgebracht. Das liegt auch darin, dass die Moderne keine Begrenzungen im Sinne eines vernünftigen „Maßes“ mehr kennt. Alles, was machbar ist, wird auch gemacht. Diese Entwicklung hat der Kieler Philosophieprofessor Ralf Konersmann zum Gegenstand seiner geschichtsphilosophischen Untersuchungen gemacht.
Als zentralen Bezugspunkt führt Konersmann gleich zu Beginn den berühmten Satz des Vorsokratikers Protagoras ein, nach dem der Mensch das Maß aller Dinge sei. Dieser Satz bietet sich vor allem in unserer aufgeklärten Zeit für grandiose Missverständnisse bis hin zum Vorwurf der Hybris an, attestiert er doch scheinbar(!) dem Mensch eine gottähnliche Stellung. Dagegen war er eher naiv in dem Sinne gemeint, dass der Mensch als einziges denkendes und sprechendes Naturwesen die Welt um sich nach seinen Möglichkeiten beurteilen und im Alltag bewältigen müsse. Die Antike kannte zwar die Götter, räumte ihnen aber im alltäglichen Leben keine große Rolle ein.
In diesem Sinne hätte der Mensch stets ein von der Natur mitgegebenes Maß anwenden müsse, das ihm sozusagen angeboren und „angemessen“ war. Doch Platon kritisiert diesen Satz aus einer anderen Perspektive, indem er Sokrates dagegen einwenden lässt, es gebe eine – absolute? – Vernunft oberhalb der Natur, die sich der Mensch durch das eigene Denken aneignen müsse. Platon selbst glaubte nicht an das Maßvolle des menschlichen Geistes und delegierte die Definition und Überwachung des Maßes an eine Gottheit, da die Menschen in ihrer Höhle nur die Schatten der Wirklichkeit sehen konnten.
Bei den eher pragmatischen Römern hat sich unter anderen Seneca dem „Maß des Lebens“ gewidmet und eine allgemeine Mäßigung gefordert, die sich damals noch nicht gegen moderne Wissenschaften richtete, sondern gegen die üblichen Ausprägungen menschlicher Gier und Grenzenlosigkeit.
Nach einem langen und dunklen Mittelalter, in dem das Maß des Lebens hauptsächlich durch eine asketische christliche Religion definiert wurde, kam erst mit der frühen Neuzeit Bewegung in die Betrachtung der menschlichen Aktionsmöglichkeiten. Konersmann sieht dabei Francis Bacon als einen der Wegbereiter der Moderne. Aus den schlechten Erfahrungen der Weltgeschichte kam er zu dem Schluss, dass der Mensch selbst nie in der Lage seien werde, ein rechtes Maß für ein gelungenes gesellschaftliches Leben einzuhalten, und empfahl daher, man solle die vom Schöpfer bereitgestellte Natur allein nach der sinnlichen Erfahrung studieren und zu verstehen lernen, um schließlich das göttliche Maß für das menschliche Leben zu verstehen. Darin steckte zwar noch nicht die menschliche Hybris, alles zu verstehen und beherrschen zu wollen, doch ungewollt löste Bacon damit die bis dahin bestehenden mentalen Bremsen gegenüber einer empirischen Erforschung der Welt.
Konersmann lässt bei seiner Betrachtung der menschlichen Beschäftigung mit dem „rechten Maß“ alle großen Philosophen der letzten Jahrhunderte Revue passieren, von Bacon bis Blumenberg, von Hegel bis Heidegger, wobei er sich weitgehend auf die Interpretation der jeweiligen Gedankengänge beschränkt und auf die wohlfeile (moralische) Polemik des Nachgeborenen verzichtet. Selbst Heideggers mystische Gedankengänge kritisiert er eher aus einer logischen als aus einer ethischen oder gar politischen Sicht, wobei Heideggers rechte Anwandlungen eher im Nebensatz erwähnt werden. Bei Hegel betont er den – an Sokrates erinnernden – Glauben an eine Weltvernunft, der sich der Mensch immer weiter annähern und die er schließlich für sich annehmen müsse. Andere Philosophen werden mit jeweils spezifischen Aussagen zum „Maß des Lebens“ zitiert, wobei es den Rahmen dieser Rezension sprengen würde, alle Erwähnungen und Zitate aufzuführen.
Konersmann betont, dass in der Antike das Maß stets implizit mit einer Ethik des Lebens verbunden war. Diese Ethik war ihm zufolge jedoch nicht das Ergebnis einer aktiven Arbeit mit dem Maß an den Erscheinungen des Lebens, sondern das Maß war seine eigene Ethik; dieser ganzheitliche Denkansatz kannte keine Trennung der Erscheinungsformen im heutigen wissenschaftlichen Sinne.
Mit der Moderne sieht Konersmann eine im wahrsten Sinn des Wortes „maßlose“ Einstellung der Welt gegenüber an Boden gewinnen. Leider ist der Begriff „Maßlosigkeit“ normativ bereits so stark belastet, dass er seine ursprüngliche sachliche Bedeutung eingebüßt hat. Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften, ist auch das ursprüngliche – intuitive oder natürliche – Maß bewusst aufgegeben worden, eben weil es sich nicht messen ließ. Und Dinge, die man nicht messen kann, lassen sich nicht in allgemeingültige Gesetze und Regeln gießen. Also galten die gemessenen physikalischen – oder in den Sozialwissenschaften in Umfragen ermittelten – Messwerte als die einzig verwertbaren Fakten. Die Maßlosigkeit der modernen Wissenschaften entstand demnach nicht aus moralischer Minderwertigkeit – Stichwort „(Neu-)Gier“ – sondern aus dem Wunsch, gesicherte Erkenntnisse zu gewinnen.
Konersmann erliegt in diesem Buch nicht der Versuchung, Dinge wie Nukleartechnik – Wasserstoffbombe als Ergebnis – oder Gentechnik – Eingriff in die DNA – als normativ katastrophale Beispiel einer maßlosen Wissenschaft zu denunzieren. Ihm geht es in keinem Augenblick um die Entwicklung einer normativ erhöhten Position und deren Besetzung durch die eigene Person, sondern um die Logik der Entwicklung zu einer Welt ohne Maß. Viele Autoren verfallen der Versuchung, der Welt ihren eigenen moralischen Stempel aufzudrücken und sich dabei wohl zu fühlen, Konermann jedoch geht den Gründen für die Entwicklung nach und entdeckt dabei überraschende Kausalitäten und Ursachen. So sieht er die Französische Revolution als einen Treiber für die heutige Entgrenzung menschlicher Aktivitäten, hat sie doch auf ihrem Höhepunkt abstrakte Messwerte – unter anderen das „Meter“! – für alle Dinge der Natur gefordert und eingeführt. Diese Messwerte sollten nicht mehr nationale oder gar regionale Lebensumstände widerspiegeln, sondern den über allem Lokalen stehenden Geist einer globalen Theorie der Welt.
Die heutige Beschränkung auf messbare Kriterien bzw. Daten hat dann konsequenterweise auch zur Folge, dass man bei allen Forschungsaktivitäten nicht messbare Größen – Konersmann führt hier mit leicht ironischem Unterton das „Gute, Wahre, Schöne“ an – schlicht aus den Algorithmen oder zu erkennenden Gesetzmäßigkeiten ausschließt. Sie werden im besten Fall noch als kulturelles Beiwerk behandelt, das aber auf den Forschungsgegenstand keinen essentiellen Einfluß ausübt. Das ethische Maß, das früher das tägliche Leben und die Denkarbeit als immanenter Bestandteil mitbestimmte, wird heute erst nachträglich wieder auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aktivitäten projiziert, dann natürlich mit allen Einschränkungen hinsichtlich einer eventuellen nachträglichen Relativierung oder gar der möglichen sozialen Folgen. Eine vermeintlich nützliche Erkenntnis lässt sich einerseits nur schwer vergessen und andererseits kaum mehr annullieren, wenn sie handfeste materielle Vorteile bringt.
Konersmann verzichtet auch am Schluss des Buches auf vordergründige Appelle an mehr „Maßhalten“. Wenn man so will, ist das ganze Buch eine mahnende Erinnerung an das einst vorhandene Maß – wenn es denn so war -, und eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung und ihrer Ursachen ist allemal nützlicher als das Schwenken der moralrevolutionären Fahne.
Hervorzuheben ist noch der umfangreiche Anmerkungsteil, der nicht nur Quellverweise enthält, sondern umfangreiche Detailinformation zu den im Text ausgeführten Beispielen, Werken und Autoren.
Das Buch ist im Verlag S.Fischer erschienen, umfasst 318 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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