„Dunkelblum“ – was für ein Titel!
Das ist doch ein Widerspruch in sich, das helle, farbige Leuchten, das wir mit einer Blume verbinden, im Zusammenhang mit Dunkel, also Unklarheit. Oder ist es das, was im Dunklen, also im Verborgenen, blüht und gedeiht? Der Titel scheint auf nichts Gutes zu verweisen.
Der 2021 erschienene Roman „Dunkelblum“ von Eva Menasse erzählt die Geschichte eines kleinen fiktiven Ortes im Burgenland, dem süd-östlichsten Zipfel Österreichs, unmittelbar an der Grenze zu Ungarn.
Hinter der scheinbar gemütlichen Dorfwelt stecken schlimme nationalsozialistische Kriegsverbrechen, über die die ältere Generation einen Mantel des Schweigens gedeckt hat. Das Jahr 1989 markiert einen möglichen Einschnitt mit dem Versuch eines ehemaligen jüdischen Mitbürgers, diese Verbrechen aufzudecken und die mittlerweile mit gutbürgerlicher Maske lebenden ehemaligen Täter zu entlarven.
Mit verändertem Namen logiert er sich zunächst unerkannt im altbekannten Gasthof ein und beginnt, die Dorfleute nach ihren Erinnerungen aus der deutschen Besetzungszeit zu fragen. Das bringt Unruhe und Verunsicherung ins Dorf, auch bei Vertretern der jüngeren Generation. Nur wenige wollen wirklich herausfinden, was geschehen ist.
Mit der Erinnerung ist es insgesamt schlecht bestellt. Die Dorfgemeinschaft ist verschworen wie eh und je, erinnern will sich niemand mehr, nicht mehr „die alten Sachen“ aufreißen. Immer noch gibt es die alten Machtstrukturen im Dorf, die alten Nazis können noch lange die Deutungshoheit über die Geschichte wahren. Wo Unrecht geschehen ist, lässt sich das leicht auf die Russen abwälzen.
Ihnen gegenüber steht eine neue „grüne“ Fraktion, die in die Zukunft blickt und Dunkelblum attraktiver machen will, auch für den Tourismus. Die Spaltung zwischen Altvorderen und eher Fortschrittlichen zeigt sich an der Diskussion um den Beitritt zu einem „Wasserverband“, der die Wasserversorgung überregional sicherstellen soll. Bei der Diskussion geht es weniger um die Sache als vielmehr um Macht und Einfluss im Dorf. Immer noch sind die stärker, die an allem festhalten wollen, wie es immer war. Die Fraktionen stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Eva Menasse legt ihren Roman an wie eine Detektivgeschichte. Der fremde Gast ist auf der Suche nach einem Massengrab in oder bei Dunkelblum, das Gewissheit über die Verbrechen der Dunkelblumer geben soll. Gleichzeitig wird von einer Gruppe engagierter junger Menschen der alte jüdische Friedhof, in der Dunkelblumer Sprache der „dritte Friedhof“, aufgeräumt und saniert.
Zur gleichen Zeit geschehen seltsame Dinge: Ohne ersichtlichen Grund brennt ein Heustadel nieder, eine gar nicht so alte Frau stirbt plötzlich und unerwartet. Sie war aktiv beteiligt an der Erstellung einer Dorfchronik. Hat da jemand nachgeholfen?
Bei der Grabung nach einem Wasserlauf wird ein Skelett entdeckt, dessen Herkunft unklar ist. Ist es ein Hinweis auf das gesuchte Massengrab? Ist es vielleicht ein weibliches Skelett und damit ein Hinweis auf ein russisches Verbrechen? Oder ist es ein Weltkriegssoldat, was alle beruhigen würde?
Dann wird auch noch der grade sanierte jüdische Friedhof verwüstet und mit Naziparolen auf den Grabsteinen geschändet. Wer steckt dahinter? Ein Plan? Oder kann man das als Dumme-Jungs-Streich abtun?
Schließlich werden alle „Fälle“ ad acta gelegt. Es zeigt sich, dass auch die jüngeren, am Fortschritt orientierten Dunkelblumer alles gar nicht so genau wissen wollen, um den Ruf des Ortes als „braunem Nest“ endlich hinter sich lassen zu können
Dazu ergibt sich eine günstige Gelegenheit, als im August 1989 die Grenze nach Ungarn geöffnet wird und Flüchtlinge aus der DDR in Scharen Dunkelblum erreichen. Nun kann man sich in seiner Menschlichkeit und Offenheit den anderen gegenüber zeigen, wenn auch hoffentlich nur auf kurze Zeit.
Eva Menasse arbeitet in ihrem Roman mit zwei Zeitebenen. Wir lernen die Dunkelblumer von 1989 ebenso kennen wie die Dunkelblumer von 1938 bis 1945. Meisterhaft ist sie in der Charakterisierung der Menschen in den Dialogen, wenn es um die Verbreitung von Gerüchten, von Vorurteilen und Verschwörungstheorien geht. Da hat sich seit 1945 nicht viel geändert.
Am eindringlichsten ist sie in den Kapiteln, in denen es um die sehr schnelle Anpassung an nationalsozialistische Ideologie geht, um die Verdrängung, Verjagung und schließlich die Deportation der bis dahin angesehenen jüdischen Mitbürger. Sie verfolgt die Geschichte verschiedener jüdischer Familien. Einige können rechtzeitig das Land verlassen. Andere fliehen in letzter Minute, entkommen aber schließlich doch nicht der Deportation. Und die Dunkelblumer haben die verbliebenen jüdischen Mitbürger in die Donau getrieben. Darüber wird nie mehr gesprochen, auch nicht von dem zurückgekehrten Überlebenden,
Die Leserinnen erfahren mehr über die Geschichte und insbesondere über die Verbrechen der Dunkelblumer, an der offenbar auch die alte Gräfin beteiligt war, als die Jüngeren je erfahren werden. Auch der fremde Gast stößt an die Grenzen des mangelnden Erinnerungswillens der Dunkelblumer. Er weiß, was geschehen ist, aber kann den Erweis nicht erbringen, um die noch lebenden Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Nur der mittlerweile halb demente Alt-Nazi und ehemaliger Gauleiter weiß, „wo nicht gebaut werden dürfe, niemals, sonst fängt das alles wieder von vorne an.“
Die alte Pestsäule in der Mitte des Ortes ist ein Mahnmal, das als Motiv den Roman durchzieht: Wie gehen die Menschen miteinander um und was tun sie einander an, wenn Zusammenhalten ein Gebot der Menschlichkeit wäre! Ein Mahnmal ist auch dieser Roman, grade heute.
Eva Menasse macht uns den Einstieg in den Roman nicht ganz leicht. Sie stellt uns die Dunkelblumer vor, wie sie sich zur Zeit des Eintreffens des scheinbar fremden Gastes im Leben eingerichtet haben. Wir lernen die verschiedenen Familien kennen mit ihren vielfachen familiären Verbindungen – da gibt es auch schon mal ein Kuckuckskind – und ihrer Vernetzung im Dorf, gleichzeitig gibt es auch Hinweise auf die Vergangenheit der Figuren. Das geschieht sowohl aus der Sicht der allwissenden Erzählerin als auch aus der Sicht der Figuren selbst.
Für die Leserin ist es zu Beginn nicht ganz einfach, die Figuren richtig einzuordnen und die dazu gehörenden Geschichten auseinanderzuhalten. Die Leserin ist selbst wie eine fremde Besucherin, die sich erst nach und nach in diesem Dorf und ihren Menschen zurechtfinden muss. Eva Menasse lässt sie aber diese Anfangsprobleme zunehmend vergessen, je intensiver sie uns an die Menschen heranführt und die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart sichtbar macht.
Zu Beginn erscheint die Sprache recht üppig, wenn uns Eva Menasse in das Dorf hineinführt und auch tief in die Vergangenheit ausholt, um die Begrenztheit der Szene zu schildern, die sich durch nichts auszeichnet als durch einen Schlossturm, der vom niedergebrannten Schloss übrig geblieben ist. Doch je mehr das Leben in Dunkelblum sichtbar wird, wird auch Eva Menasses Sprachmacht deutlich. In den Dialogen ist sie den Dunkelblumern ganz nah in ihrer knappen Sprechweise, die nur das Nötigste enthält. In den erzählenden Passagen kann sie ausbreiten und Tableaus entwickeln, die uns auch die schrecklichsten Ereignisse nicht ersparen. Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto mehr fesselt Eva Menasse mit ihrer sprachlichen Intensität.
Je intensiver die Suche nach der Wahrheit wird, desto klarer wird, dass es die Wahrheit nicht geben wird und dass die Erinnerung die größte Lügnerin ist. Entsprechend bleiben am Ende der Detektivgeschichte – fast – alle Enden offen. Es bleiben Fragen, denen die Leserin selbst weiter nachgehen kann oder muss, je nach dem, wo sie ein „Dunkelblum“ erkennt.
Es lohnt sich, sich auf den Roman einzulassen und durchzuhalten.
Der Roman ist im Kiepenheuer& Witsch Verlag erschienen, hat 523 Seiten und kostet 25 Euro.
Elke Trost
No comments yet.