Fast ein Jahr musste diese Inszenierung wegen Corona auf ihre Aufführung warten, und in diesem Fall kann man sagen, dass diese lange Zeit den Spruch „Was lange währt, wird endlich gut“ vollständig rechtfertigt, wenn auch in diesem Falle wohl unfreiwillig.
Das Programm besteht aus zwei Einaktern, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dennoch ähnliche Themen behandeln: geradezu archetypische Frauenschicksale. Die Kantate „Lucrezia“, komponiert von Georg Friedrich Händel im Jahr 1706, bringt die antike Klage einer römischen Frau auf die Opernbühne. Lucrezia ist in ganz Rom für ihre Treue und Sittsamkeit berühmt, so dass der Sohn des Etruskerkönigs Tarquinius beschließt, dieses Symbol der weiblichen Ehrsamkeit durch eine Vergewaltigung zu zerstören. Dies gelingt ihm dank Lucrezias Gastfreundschaft und seiner eigenen Skrupellosigkeit auch, und das Publikum erlebt eine von dem Ereignis zerstörte Frau, die vor allem die mit der Vergewaltigung einhergehende Schande nicht ertragen kann. Wie auch heute noch – in unterschiedlichem Ausmaß – war damals die Ehre einer vergewaltigten Frau auch ohne ihre eigene Schuld zerstört, so dass sie sich nur durch den Freitod der Schande entziehen konnte.
Händel lässt eine einzelne Sängerin, hier die Mezzosopranistin Lena Sutor-Wernich, den Schmerz, die Wut und die Rachegedanken der Lucrezia in aller Tiefe und Breite zum Ausdruck bringen. Vor dem auf der Hauptbühne installierten Guckkasten spielt im Graben ein ausgedünntes Orchester mit zwei Celli als Zentrum. Die Emotionen der Hauptperson sind, wie in der Barockmusik üblich, gesanglich eingehegt. Intensität des Gesangs ist wichtiger als Expressivität von Mimik und Körpersprache. Kunsthistorisch lässt sich das so erklären, dass die Zuhörer – Adlige der herrschenden Schicht – keine unmittelbaren individuellen Gefühlsausbrüche hören und sehen wollten, sondern nur künstlerisch gebändigte Emotionen, an deren Darbietung man sich erbauen konnte. Die Regisseurin Mariame Clément, extra für die Premiere aus Paris angereist, hat diese barocke Regel jedoch aufgebrochen. Sie lässt die mit Jeans und Kapuzenpulli bekleidete Lucrezia ihr Leid in einem etwas schäbigen modernen Badezimmer zwischen Toilette und billigem Duschvorhang beklagen, wobei sie sich noch vor dem Einsetzen ihres Gesangs spektakulär in die Toilettenschüssel erbricht. Das kann man zwar als Hinweis auf das zeitlose Problem der Vergewaltigung verstehen, doch wirkt dieser Kontrast zur barocken Herkunft etwas aufgesetzt. Weniger wäre hier mehr gewesen, und ein puristisches Bühnenbild sowie ein zeitloses Kostüm hätten die Botschaft wohl wesentlich eindringlicher vermittelt. Die Fallhöhe zwischen künstlerischer Bändigung der Emotionen und der banalen Umgebung eines billigen Badezimmers birgt stets die Gefahr unfreiwilliger Komik in sich, die der eigentlichen Aussage eher schadet.
Lena Sutor-Wernich kann diesen Nachteil jedoch durch eine außerordentliche stimmliche und auch darstellerische Leistung wettmachen. Von den höchsten Lagen bis tief hinunter in den Alt ist ihre Stimme stets präsent und bringt die Not dieser Frau überzeugend zum Ausdruck, und darstellerisch beschränkt die Sängerin körperliche Expressivität auf wenige Momente. Meist drückt sie die innere Befindlichkeit ihrer Figur durch Anspannung und Einigelung aus.
Die Musik aus dem Graben steuert dazu einen klagenden Ton mit transzendendierender Tendenz bei. Nicht umsonst stammt der Begriff „Kantate“ vom lateinischen „cantare“ – singen. Die Ausdruckskraft kommt von der Sängerin, nicht von der begleitenden Musik.
Nach einer kurzen Umbaupause folgte Lili Boulangers Einakter „Faust et Hélène“, den die junge Frau im Jahr 1913 als Neunzehnjährige komponierte. Man fühlt sich bei ihrer Musik ein wenig an Mahler und – ja! – auch an Wagner erinnert. Aber auch Debussy und Ravel klingen bisweilen durch. Lang gezogene Streicherbögen und ein breit aufgestelltes Orchester zeugen von erstaunlicher kompositorischer Kompetenz, die den gesamten Einakter durchzieht. Die Handlung entspricht Goethes Vorlage „Faust II“: Faust erwacht und verlangt nach Helena, dem weiblichen Schönheitsideal und Männertraum(a) der Antike. Mephisto erweckt sie gegen ihren Widerstand zum Leben, aber gleichzeitig präsentiert er Fausts innerem Auge die unzähligen Geister der bei Troja Helenas wegen zu Tode gekommenen Krieger. Als Helena sich endlich zur weltlichen Liebesgemeinschaft mit Faust durchgerungen hat, versinkt Faust erst in Verzweiflung und dann im von Mephisto verordneten Schlaf. Helena kehrt zurück in den Hades.
Auch diese Inszenierung nutzt den Guckkasten von „Lucrezia“, jetzt aber als Mini-Bühne eines Varieté-Theaters, auf dem Mephisto als Zauberer auftritt und die handelnden Personen – Faust und Helena – in doppeltem Sinne vorführt. Faust sitzt alleine in dem durch ein paar Stühle angedeuteten Zuschauerraum, aber in Wirklichkeit richtet sich Mephisto an das Publikum dieser Inszenierung, damit eine Meta-Ebene einführend. Während es bei „Lucrezia“ um die Gewalt an Frauen (durch Männer) geht, wird hier die unheilvolle Wirkung weiblicher Schönheit auf die Männer und damit auf die Welt thematisiert. Während Helena dies spürt und deshalb nicht mehr ins Leben zurück will, reduziert sich Faust selbst an Mephistos Marionettendrähten auf sein Begehren und schlägt alle Einwände in den Wind. Letztlich enthält auch dieses Stück eine existenzielle Kritik an der männlichen Welt, und die Geister der toten Krieger bringen ihn nicht zur Vernunft sondern stürzen ihn in Verzweiflung.
Die Musik des auf der Bühne hinter dem Varieté-Portal angeordneten Sinfonieorchesters intoniert dieses psychologische Drama mit eindringlicher, sogartiger Musik, wie man sie von Wagner kennt. Dazu zeigt sich das Gesangsensemble von der besten Seite. Die Mezzosopranistin Solgerd Isalv verleiht der Helena eine melancholische Weltsicht, die sich der eigenen unheilschwangeren Wirkung zwar bewusst ist, aber sich dennoch nach Leben und Liebe sehnt. David Lee ist ein expressiver und stimmstarker Faust bis hin zur körperlichen Erschöpfung, und Johannes Seokhoon Moon weckt durch seine ironische Art der Mephisto-Darstellung Erinnerungen an Gustav Gründgens. Dazu wandert Lena Sutor-Wernich als Geist des verlassenen Gretchens mit totem Kind über die Bühne und zeigt sich enttäuscht über die Fausts Liebe zu Helena. Regisseurin Clément zeigt hier eine gute Portion literarischer Ironie.
Das spärlich erschienene Publikum – Corona! – spendierte kräftigen Beifall und belohnte damit die Mühen eines durch die Pandemie schwer getroffenen Ensembles.
Frank Raudszus
No comments yet.