Zu allen Zeiten haben große Denker sich allen möglichen Themen von Philosophie bis Physik gewidmet und versucht, für die unterschiedlichen Lebensbereiche des menschlichen Daseins ein allgemeines Konzept zu finden. Dazu mussten sie sich auch in abgelegene Wissensbereiche einarbeiten, was ihnen meist aufgrund ihrer intellektuellen Begabungen keine Probleme bereitete. Das war auch für Platon bei seinen Werken über Natur- und Kunstverständnis der Fall. Hier verwendete er die naturwissenschaftlichen, speziell die mathematischen Erkenntnisse seiner Zeit, ohne diese Grundlagen explizit zu erklären. Das bereitete vielen seiner Leser, die damals nicht in den Genuss einer verpflichtenden Schulbildung in all diese Bereiche kamen, offensichtlich erhebliche Verständnisprobleme.
Der Philosoph Theon von Smyrna, geboren 132 n. Chr., nahm sich dieses Problems an und schuf mit der Originalversion des vorliegenden Buches ein Werk, das sich auf eine für damals profane Weise die Vermittlung der benötigten mathematischen Kenntnisse konzentrierte. In diesem Buch spielen Götter und Mythen – außer einem hingeworfenen „bei Zeus!“ – keine Rolle, und Theon verhält sich nicht anders als ein heutiger Professor der Mathematik, nur das sein Kenntnisstand damals etwas eingeschränkter war. Viele der hier dargestellten mathematischen Gesetzmäßigkeiten, etwa in Geometrie oder Algebra und in der Musik, sind noch heute gültig, während man die astronomischen Kenntnisse heute aus der Sicht der wissenden Nachgeborenen huldvoll belächelt.
Der Herausgeber hat dem Buch eine ausführliche Einleitung vorangestellt, in denen er die einzelnen Sachgebiete kurz vorstellt und neben Platon auch dessen naturwissenschaftlichen Vorgänger wie Anaxagoras und deren Bedeutung aufführt. Den Lesern sei diese Einleitung wärmstens empfohlen, weil sie die im Buch behandelten Gegenstände in moderner Diktion und mit dem heutigen Wissen behandelt, wenn auch natürlich nicht wissenschaftlich erläutert.
Das Buch selbst ist zweisprachig verfasst: die linken Buchseiten enthalten den altgriechischen Urtext, die rechten absatzgenau die deutsche Übersetzung. Die bemüht sich, den Sprachduktus des griechischen Originals soweit wie möglich nachzuvollziehen, und vermittelt dabei durchaus einen Eindruck von der antiken Art zu denken und zu schreiben. Einerseits wirkt diese Sprache altertümlich, andererseits beeindruckt sie durch ihre Genauigkeit und die logische Konsistenz.
Theon hat für die Platonlektüre drei wichtige Fachgebiete identifiziert, in denen er Platons Lesern eine Unterstützung angedeihen zu müssen glaubt: die Arithmetik, die Musik und die Astronomie. Die Musik fällt nur scheinbar aus diesem mathematischen Rahmen, denn wer sich mit ihr näher beschäftigt, weiß, dass Tonsysteme und Harmonik weitgehend mathematisch definiert sind.
In der Arithmetik zeigt Theon den überraschend hohen mathematischen Kenntnisstand. Die Primzahlen waren Allgemeinwissen, und auch Reihenentwicklungen, eine unabdingbare Basis aller höheren Mathematik – z.B. für die Eulersche Zahl „e“ – waren damals schon mathematische Alltagspraxis. Auch für heutige mathematisch vorgebildete Leser ergeben sich bei dieser Lektüre immer wieder Überraschungen. So definiert Theon das System natürlicher Zahlen für Flächen (Quadratzahlen), Körper (Kubikzahlen) und mehrdimensionaler (virtueller) Gebilde. Die auf knapp sechzig Seiten zusammengefassten Erkenntnisse der antiken Zahlentheorie geben auf konsistente Weise die Gesetzmäßigkeiten der bekannten Vielecke (Quadrat, Rechteck, Fünfeck, Sechseck) wieder und beweisen die zeitlose Gültigkeit dieses mathematischen Grundwissens.
Ähnliches Gilt für die Musik, bei der Theon von der Länge der Saiten ausgeht, denn den physikalischen Begriff der Frequenz kannte man damals noch nicht. So wusste man um das Längenverhältnis der Oktave (2:1), der Quinte (3:2) und der Quarte (4:3), aus denen man auf logisch stringente Weise das zwölfstöckige Tonsystem samt harmonischer Wirkungen entwickelte. Schon damals konnte man also harmonisch zusammenwirkende Orchester aufbauen. Für die Musik benötigt Theon sogar über hundert Seiten, denn hier geht es um die Vermittlung eines für den menschlichen Alltag bedeutenden Wissenschaftsbereiches, und statt der heute üblichen knappen mathematischen Formeln musste man jede mathematische Beziehung durch komplexe Satzkonstruktionen erklären. Dabei räumt Theon besonders den komplexen harmonischen Beziehungen der zwölf Halbtöne viel Platz ein.
Im Gegensatz dazu übt der für Theon wohl wichtigste Bereich, die Astronomie, heute fast ein wenig unfreiwillige Belustigung aus. Denn Theon ging wie alle Wissenschaftler von der festen Überzeugung aus, dass die Erde – damals schon eine Kugel! – in der Mitte des Kosmos schwebte. Um sie herum drehten sich auf mehr oder minder festen separaten Hohlkugeln – in dieser Reihenfolge! – der Mond, die Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Auf der letzten Kugel waren alle Fixsterne angesiedelt, von deren Eigenschaften man jedoch keine Vorstellungen hatte. Heute wissen wir, dass die Umlaufzeit von Planeten – um die Sonne natürlich! – mit zunehmender Entfernung von dieser steigt, was bedeutet, dass die inneren Planeten die äußeren überholen. Vor dem Hintergrund der Fixsterne scheinen die äußeren Planeten – von der Erde aus gesehen – rückwärts zu laufen, um dann, wenn die Erde nach einer Umkreisung der Sonne zurückkehrt, plötzlich wieder weit vorne zu stehen. Daraufhin haben die damaligen „Wissenschaftler“ eine komplexe Theorie entwickelt, nach der die Planet auf ihren die Erde umkreisenden Bahnen zusätzliche kleinerer Kreise durchlaufen, die dann jedes Mal zu scheinbaren Rückwärtsbewegungen gegenüber dem Hintergrund führten. Über die physikalischen Gründe für diese Extrakreise machte man sich keine Gedanken, weil man weder die Gravitation noch die Fliehkraft als sich gegenseitig kompensierende Kräfte kannte. Man definierte einfach die Kreisbewegungen so, dass sie mit der Evidenz harmonierten. Damit stimmte das Weltbild wieder. Auf über hundertzwanzig Seiten erklärt Theon mit akribischer Genauigkeit die Bewegungen aller Objekte am Himmel, einschließlich der jahreszeitlich unterschiedlichen Sonnenstände, sowie besondere Ereignisse wie Sonnen- und Mondfinsternisse und die Überdeckung anderer „Mitspieler“ am Himmel. Das ist streckenweise nur schwer nachzuvollziehen, was aber angesichts der heutigen Obsoleszenz der damaligen Grundannahmen auch nicht notwendig ist. Man geht als Leser nicht jeder verbal erklärten Schleifenbewegung nach, da man sich des faschen Ansatzes bewusst ist. Dennoch ist die Bemühung um Konsistenz und Exaktheit im Detail bewundernswert.
Für Humanisten mit soliden Kenntnissen in Altgriechisch ist dieses Buch sicherlich besonders reizvoll, kann man doch links stets die Originalversion nachlesen. Doch auch Leser mit lediglich Buchstabenkenntnissen des Altgriechischen können von dieser Zweiteilung profitieren, denn erst hier sieht man, wieviel altgriechische Worte sich in unserem heutigen (wissenschaftlichen) Sprachgebrauch gehalten haben. Ohne Probleme findet man die offensichtlich – der Rezensent ist kein Kenner des Altgriechischen! – wörtlich übersetzten Sätze anhand der einschlägigen Fachwörter und lernt dabei – wenn man will – stückweise etwa Altgriechisch. Wer mehr will, kann ein entsprechendes Wörterbuch – und vielleicht sogar eine Grammatik! – hinzuziehen und dabei die Grundlagen dieser antiken Sprache lernen. Viel Spaß dabei!
Ein kleiner Wermutstropfen sei jedoch noch in den runden Wein dieser Lektüre geschenkt: die deutsche Übersetzung enthält leider nicht wenige grammatische oder satzbauliche Fehler, die offensichtlich einer mangelhaften Endredaktion anzulasten sind. Offensichtlich hat die Bemühung um eine satzgenaue Übersetzung nicht nur zu einer – durchaus angemessenen – altertümelnden Sprache, sondern auch zu sprachlichen Flüchtigkeitsfehlern geführt.
Das Buch ist in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt) erschienen, umfasst 352 Seiten und kostet 80 Euro.
Frank Raudszus
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