Die meisten Künstler veröffentlichen zu Lebzeiten nur ihrer Ansicht nach abgeschlossene Arbeiten. Entwürfe, spontane Skizzen und erste Versuche bleiben meistens aus Gründen der Seriosität oder der künstlerischen Selbstdarstellung in den Schubladen und harren dort der posthumen Veröffentlichung. Anders die US-amerikanische Künstlerin Kara Walker (* 1969), die der Frankfurter Kunsthalle Schirn über 600 Exemplare unfertiger oder flüchtiger Arbeiten zur Veröffentlichung im Rahmen einer Ausstellung überlassen hat.
Die mit dem Namen der Künstlerin übertitelte Ausstellung enthält im Untertitel den paradigmatischen Satz „A Black Hole Is Everything a Star Longs to Be“. Die Doppeldeutigkeit dieses Satzes ist offensichtlich: einerseits wünschen sich Künstler die überwältigende Anziehungskraft eines „schwarzen Loches“, andererseits spielt dieser Satz auch auf subtile Weise mit der Hautfarbe, denn Kara Walker ist selbst Farbige und hat sich Zeit ihres bisherigen Lebens mit Rassismus und Gewalt gegen Farbige auseinandergesetzt.
Bekannt geworden ist sie mit Scherenschnitten, entweder statisch oder im Rahmen bewegter Performances, doch diese Kunstform spielt in der Ausstellung eine untergeordnete Rolle. Die Ausstellung besteht überwiegend aus Zeichnungen in verschiedenen Techniken sowie aus Wasserfarben-Skizzen. Allen Arbeiten ist der transiente Charakter des „work in progress“ eigen. Man merkt einerseits, dass diese „Arbeiten“, wenn man sie denn so nennen will, ursprünglich nicht für die Veröffentlichung gedacht waren und nur der inneren Verarbeitung verstörender Verhältnisse sowie der Selbstfindung dienten. Andererseits transportieren gerade diese nicht von kuratorischer Vernunft gefilterten Arbeiten das Innenleben der Künstlerin sowie die existenzielle Verunsicherung und Empörung einer diskriminierten Minderheit. In ihren vielfältigen Skizzen bringt Kara Walker Unterdrückung, Missachtung, sexuellen Missbrauch und Gewalt bis zum Mord ungeschminkt zum Ausdruck.
Einen großen Bereich nehmen die Zeichnungen ein, die das beste Beispiel für den unmittelbaren Ausdruck seelischen Leidens sind. Mit einem wie immer gearteten Zeichenstift kann man die eigenen Empfindungen am unmittelbarsten auf Papier bringen, weil dazu keine disziplinierenden Vorbereitungen nötig sind. Wer eine komplizierte Darstellungsform wie Ölmalerei oder Bildhauerei wählt, hat zwangsläufig viel Zeit zum Überlegen, was meist in die Relativierung oder Glättung eigener Emotionen mündet. Nicht so die hingeworfene Zeichnung, in der Kara Walker mit wenigen genialen Strichen das prekäre Unwesen der Gewalt von Menschen gegenüber Menschen auf den Punkt bringt. Dabei nimmt sie keine Rücksicht auf ästhetische oder gar gesellschaftliche Konventionen. Unterdrückte oder als Sexualobjekt missbrauchte Frauen erbrechen sich auf Männer, die Vergewaltigung selbst erscheint in unverblümten Varianten, bisweilen pubertären Schülerfantasien ähnelnd und damit besonders authentisch, und mehr als ein Foto zeigt die Ermordung schwarzer Menschen durch den Strick oder andere Mordwerkzeuge auf ähnlich deutliche Weise. Auch hier wirkt die radikale Reduzierung besonders verstörend, weil nicht ästhetisch aufbereitet.
Aber auch das große Format gehärt zu diesen Atelierarbeiten. So spielt Barack Obama, der erste schwarze US-Präsident, eine zentrale Rolle in Walkers Arbeiten. In großformatigen Bildern zeigt sie ihn mal als Märtyrer, dann wieder als Klischee-Bild des schwarzen Stammeshäuptlings mit Speer und pseudo-afrikanischem Kostüm und entlarvt mit dieser satirischen Verfremdung die gängigen Vorurteile.
Texte sind ebenfalls integrale Bestandteile der Arbeiten. Teilweise kommentieren sie zeichnerische Darstellungen mit provozierenden oder – je nach Kontext – entlarvenden Aussagen, oder sie stehen alleine und nehmen selbst den Charakter eines enigmatischen Kunstwerkes an, da sie nie platten Protest oder vordergründige Vorwürfe beinhalten. sondern mit Wortspielen oder Analogien die Verhältnisse auf den Kopf stellen oder zur Farce umdeklarieren. Man muss sich viele dieser Kurztexte einige Augenblicke durch den Kopf gehen lassen, um die Doppeldeutigkeit oder Hintergründigkeit zu entdecken. Dabei spielen auch immer wieder die Geschichte der Sklaverei und ihre implizite Fortsetzung bis ins zwanzigste Jahrhundert eine Rolle, sei es in Texten, Bildern oder Kombinationen dieser beiden Darstellungsformen.
Eine andere Technik besteht darin, bildliche Darstellungen aus alten Zeitungen und Geschichtsbüchern – etwa die Darstellung von patriotischen Kämpfen – mit eigenen bildnerischen Zutaten zu versehen und damit der offiziellen Darstellung völlig neue Perspektiven zu verleihen. Kara Walker hält damit nicht nur den US-Bürgern ihre eingeschränkte Perspektive vor Augen und zwingt zum Nachdenken über die eigene Geschichtsauffassung. Auch Anleihen bei berühmten Malern des weißen Kulturkreises gehören zu ihrer Arbeitsweise, so die Obduktion einer Leiche bei Rembrandt oder die mythischen Tiergestalten eines Picasso.
Diese Ausstellung will bewusst provozieren, sowohl durch die Überschreitung allgemein üblicher Grenzen der Darstellung als auch durch die Spiegelung weit verbreiteter und nicht eingestandener Vorurteile des Publikums. Gerade die radikale Offenheit dieser Atelier-Skizzen zwingt den Betrachter zum Überdenken seiner eigenen Position im Umfeld von Rassismus und Diskriminierung.
Die Ausstellung ist bis zum 16. Januar 2022 geöffnet. Näheres ist der Webseite der Schirn zu entnehmen.
Frank Raudszus
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