Der Roman „Das ferne Feuer“ der US-amerikanischen Autorin Amy Waldman erschien im Frühjahr 2021 in der deutschen Übersetzung von Brigitte Walitzek.
Der Roman führt die Leserinnen und Leser in die abgeschiedene ländliche Welt Afghanistans im Jahre 2019, als die US-Amerikaner und die Nato-Truppen noch im Land sind. Amy Waldman geht es insbesondere um die katastrophale Situation der Frauen auf dem Lande. Dabei zeigt sie das Aufeinanderprallen der völlig unterschiedlichen Kulturen und Wertvorstellungen der westlichen Besatzer einerseits und der afghanischen Bevölkerung andererseits. Sie macht keinen Hehl aus der Arroganz der westlichen Besatzer, die keine Ahnung von afghanischer Tradition und Kultur haben, aber meinen, sie seien die Heilsbringer, die Demokratie und Menschenrechte in das Land bringen.
Die heutigen Leserinnen und Leser wissen, wie desaströs dieser angeblich humanitäre Einsatz endete. Dennoch ist dieses Buch immer noch wichtig, da es uns wie mit einer Lupe das Leben der Menschen in Afghanistan nahebringt und zu einer neuen Sicht mit hoffentlich mehr Verständnis führt.
Amy Waldman hat umfangreich zu dem Thema recherchiert und sich auch selbst mehrere Wochen in dem Land aufgehalten, so dass man ihr eine gute Kenntnis der Lebensbedingungen zutrauen kann. Wie authentisch ihre Darstellung ist, bleibt jedoch eine offene Frage.
Da Amy Waldman die Romanform wählt, kann sie die Figuren individualisieren und exemplarisch an einem Dorf die Organisationsstrukturen, die Normen und Rollenzuweisungen schildern. So werden durchaus unterschiedliche Wege sichtbar, wie die gesellschaftlichen Normen realisiert werden. Eine kulturanthropologische Untersuchung würde gerade vom Individuellen abstrahieren und allgemeine Typologien aufstellen. Das genau will Amy Waldman offenbar nicht, vielmehr interessieren sie die Menschen mit ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, Ängsten und Ambivalenzen.
Die Hauptfigur des Romans ist die 21-jährige Anthropologie-Studentin Parvin Shams, deren Eltern vor den Taliban aus Afghanistan geflohen sind, als Parvin ein Jahr alt war. Sie leben in der Nähe von San Francisco, Parvin studiert in Berkeley.
Parvins Leben ändert sich radikal, als sie das Buch „Mutter Afghanistan“ des Arztes Gideon Crane liest, das ein Riesenerfolg in den USA ist. Crane schildert darin seine eigene Geschichte, die ihn schließlich nach Afghanistan führte, zunächst aus reiner „Sehnsucht nach Abenteuer“, dann aber getrieben davon, gegen das Elend und Leid der afghanischen Frauen etwas zu unternehmen. Die Frauen auf dem Lande bekommen viel zu früh viel zu viele Kinder, und die Sterblichkeit der Gebärenden ist immens. Er hat erlebt, wie in einem abgelegenen Dorf eine junge Frau unter der Geburt gestorben ist, weil kein Krankenhaus und kein Arzt erreichbar waren und er als Mann ihr nicht helfen durfte.
Gideon schildert in seinem Buch, wie er Geld für eine Klinik auftreibt, die in eben diesem Dorf tatsächlich errichtet wird. Er erscheint als der Mann der Tat, der Pläne umsetzt.
Das Grab der jungen Frau wird in Folge seines Buches zu einem touristischen Wallfahrtsort. Die Öffentlichkeitsarbeit leistet eine Stiftung im Namen von Gideon Crane.
Parvin ist von diesem Mann so beeindruckt, dass sie sich entschließt, selbst in dieses Dorf zu fahren und dort vor Ort mitzuhelfen. Gleichzeitig will sie mehr über ihre eigenen Wurzeln erfahren, denn sie kennt Afghanistan nur aus den Erzählungen der Eltern, die zum Teil nostalgisch verklärt sind. Sie selbst ist mit allem Komfort der amerikanischen Mittelschicht aufgewachsen.
Ihre Professorin ist nicht begeistert von diesem aus ihrer Sicht naivem Vorhaben. Für ein besseres Verständnis einer fremden Kultur hält sie die theoretische Durchdringung für wichtiger. Parvin lässt sich jedoch weder von ihr noch von der Familie abhalten und bricht tatsächlich auf.
Auf abenteuerlichen Wegen erreicht sie schließlich das Dorf. Die Stiftung hat ihr eine Unterkunft in dem Haus von Wahid, dem Witwer jener verstorbenen jungen Frau, vermittelt.
Für Parvin ist die erste Begegnung mit ihrer Unterkunft ein Kulturschock. Statt in einem eigenen Zimmer soll sie mit der ganzen Großfamilie in einem Zimmer schlafen. Schließlich erhält sie einen eigenen Raum, der eigentlich mehr ein Stall ist, den sie sich in der ersten Nacht mit allerlei Haustieren teilen muss.
An die „Wohnsituation“ kann sie sich jedoch recht schnell gewöhnen und dabei auch ihre westlichen Ansprüche auf Komfort und insbesondere auf Allein-Sein in Frage stellen.
Viel bedeutsamer ist für sie, dass die Realität vor Ort ganz anders aussieht, als sie in Gideon Cranes Buch beschrieben wird. Das Krankenhaus steht leer, Personal gibt es nicht. Nur einmal in der Woche macht sich eine Ärztin aus der nächsten Stadt auf den beschwerlichen Weg ins Dorf, um vor allem die Frauen zu beraten und zu behandeln. Parvin erringt ihr Vertrauen und wird von ihr in Basiskenntnisse über Geburt und lebensrettende Maßnahmen für Mutter und Kind eingewiesen
Parvin ist erschüttert über die schlechte Gesundheit der Frauen, aber auch über deren Lebenssituation. Sie schuften unter für westliche Vorstellungen unzumutbaren mittelalterlichen Bedingungen, um die vielen Kinder und die großen Familien zu versorgen. Für Gefühle wie Liebe oder Glück ist in diesem Leben kein Platz. Junge Frauen werden als halbe Kinder verheiratet, eigentlich „verkauft“.
Parvins idealistischem Willen zu helfen wird anfangs auch von den Frauen eher misstrauisch begegnet. Erst langsam kann sie das Vertrauen einiger Frauen gewinnen. Dabei erfährt sie auch von deren unterschiedlichen Sehnsüchten und Wünschen. So ist die blutjunge Frau von Wahid aus einer städtischen Umwelt herausgerissen worden, sie ist dort zur Schule gegangen, kann lesen und schreiben und schreibt Gedichte. Sie hatte ein ganz anderes Lebenskonzept, jetzt möchte sie nur noch aus dieser Dorfwelt ausbrechen. Ob ihr das am Ende gelingt, bleibt offen.
Als die Frauen des Dorfes Parvin bitten, ihnen aus dem Buch von Gideon vorzulesen, muss Parvin erkennen, dass Crane die Wirklichkeit aus publizistischen Gründen erheblich abgewandelt hat, so dass seine Rolle als Retter mehr als fragwürdig erscheint. Parvin ist hin- und hergerissen, wie sie das beurteilen soll. Ist es legitim, Fakten zu verändern, damit die Welt ein Thema überhaupt wahrnimmt? Oder hatte Crane nur ein egoistisches Interesse, um für sich aus der Publikation so viel Gewinn zu schlagen wie möglich?
Während ihres Aufenthalts beginnt Parvin auch die Rolle der Männer, gerade auch der jungen Männer, differenzierter zu sehen. Deren Misstrauen wendet sich gegen die amerikanischen Besatzer. Als sie das erste Mal ins Dorf kommen, tun sie das angeblich, um das Grab von Wahids Frau zu besuchen. Es stellt sich aber heraus, dass die Amerikaner eine Straße zum Dorf planen, wie es heißt, um das Dorf besser an die Außenwelt anzubinden, tatsächlich aber aus militärischen Gründen. Der Mullah des Dorfes will nicht zustimmen, aber der gewiefte Übersetzer vermittelt dem amerikanischen Offizier das Gegenteil.
Mit dem Bau der neuen Straße kommt auch der Krieg ins Dorf, von dem es bis dahin verschont war. Den Taliban gelingt es jetzt, auch hier in der Abgeschiedenheit Kämpfer zu gewinnen.
Als auch noch die Ärztin aufgrund eines Missverständnisses von den Amerikanern erschossen wird, ist die Situation der Frauen im Dorf katastrophal. Parvin ist aufgrund ihrer Basiskenntnisse die einzige, die in einer lebensbedrohlichen Geburtssituation helfen kann.
Das aber ist keine Perspektive, zumal Parvin zunehmend in eine gefährliche Situation gerät, dass sie als Amerikanerin zur Zielscheibe werden könnte. Sie muss in letzter Minute die Hilfe des amerikanischen Offiziers annehmen, um das Dorf verlassen zu können.
Wichtig ist dieses Buch wegen des Einblicks in afghanische Lebensverhältnisse, insbesondere in die der Frauen.
Diese Bedeutung lässt die Frage der literarischen Qualität des Romans sekundär werden. Sicher hat das Buch Längen, verliert sich oft im Detail, das wenig Funktion hat. Auch die Figur der Protagonistin ist zumindest gegen Ende nicht mehr ganz plausibel, wenn sie als absolute medizinische Laiin aufgrund einiger Basiseinweisungen immer das Richtige tut und Leben rettet. Auch die angedeutete Romanze mit dem Übersetzer ist überflüssig, zumal sie am Ende völlig offen bleibt.
Trotz der ästhetischen Schwächen habe ich das Buch mit großem Interesse gelesen und kann es nur dringend allen empfehlen, die grade jetzt, nach dem großen politischen Desaster, mehr über das Leben und die Menschen in Afghanistan wissen wollen.
Das Buch ist im Verlag Schöffling & Co. erschienen, hat 429 Seiten und kostet 26 Euro.
Elke Trost
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