Das 2. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt stand aus mehreren Gründen unter einem besonderen Vorzeichen. Zum Einen war es die wegen Corona aufgeschobene Realisierung eines geplanten Auftrittes im letzten Jahr in einer ganz besonderen Kombination: das Aris-Quartett mit dem international renommierten Cellisten Daniel Müller-Schott. Zum Anderen fand es – aus Raumgründen? – nicht im Staatstheater, sondern in der Darmstädter Orangerie mit ihrer eingeschränkten Sitzkapazität statt. Diese Einschränkung erwies sich an diesem Donnerstag Abend für das Darmstädter Musikleben als besonders bitter, denn viele Musikliebhaber kamen so um den Genuss eines ganz besonderen Abends, den die glücklichen Kartenbesitzer so schnell nicht vergessen werden.
Das Aris-Quartett erhielt seinen Namen aus den Endbuchstaben der Vornamen der vier Musiker (gen. masc.!) – Anna Katharina Wildermuth (V), Noémi Zipperling (V), Caspar Vinzens (Va) und Lukas Sieber (Vc). Zusätzlich hatte man den international renommierten Cellisten Daniel Müller-Schott eingeladen.
Müller-Schott leitete den Abend denn auch gleich mit der Solo-Sonate für Violoncello des US-Amerikaners George Crumb aus dem Jahr 1955 ein. Nach einem gezupften Beginn geht das Stück über in lang gezogene Bögen, wobei sich bald das Hauptmotiv aus einem kurzen höheren und einem langen tieferen Ton herausschält. Die Metrik ist völlig frei, und von Anfang bestechen die vollen, warmen Töne, die zwar einer freien Harmonik folgen, aber nie atonal wirken. Zwar fehlt der typische Spannungsauf- und -abbau der herkömmlichen Musik mit den Folgen aus Tonika und Dominante, doch dadurch gewinnt die Musik auch einen schwebenden, nie wirklich abgeschlossenen Charakter. Nach einem etwas bewegteren zweiten Satz beginnt der Finalsatz geradezu martialisch und geht dann in schnelle Läufe über, die vom Solisten perfektes Können verlangen. Daniel Müller-Schott bewies nicht nur das in bestechender Manier, sondern er entlockte diesem modernen Stück eine breite Palette von Ausdrucksvarianten, die es in keinem Augenblick spröde oder nur intellektuell erscheinen ließen.
Als zweites Stück stand das Streichquartett op. 44 Nr. 1 in D-Dur von Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Programm. Ganz ungewohnt präsentierte das Quartett – außer Cellist Lukas Sieber – die Musik im Stehen, was sich angesichts der horizontalen Anordnung der Sitzreihen im Saal als vorteilhaft erwies. Der erste Satz beginnt – typisch für Mendelssohn – temporeich und mit viel musikalischem Temperament und entwickelt sich dann zu geradezu expressivem Format. Schon hier zeigte das Quartett große Spielfreude und souveräne Leichtigkeit. Der zweite Satz, wegen der Fallhöhe vom ersten als eher schlichtes Menuett konzipiert, entwickelt dann nach dem gebotenen zeitlichen Abstand doch noch eine gesteigerte Dramatik. Doch auch den zurückhaltenden Beginn interpretierten die vier Streicher mit einer ausgeprägten Präsenz, so dass die musikalische Schlichtheit nie in Ausdruckslosigkeit mündete. Auch das Andante kam zügig, bisweilen sogar marschartig und dramatisch daher und nahm nie den Charakter einer bloßen Brücke zum Finale an. Dieses entwickelte sich vom ersten Takt an zu einem wahren Kehraus mit Jagdcharakter. Man spürte förmlich, wie die vier Musiker metaphorisch im gestreckten Galopp über die musikalischen Notenfelder jagten. Und zwischendurch schien sogar noch Zeit für ein kurzes Fugato zu sein.
Nach der Pause folgte dann der Höhepunkt des Abends: Franz Schubert posthumes Streichquintett in C-Dur op. 163, D 956. Selbst wer dieses Stück zum ersten Mal hört, aber Schuberts Lebenslauf kennt, sieht darin eine Lebensbilanz, vor allem in der zwingenden Interpretation des ARIS-Quartetts, erweitert um Daniel Müller-Schott am zweiten Cello. Der monumentale Kopfsatz besticht durch ein berückendes Hauptthema, dass sich nach einem langsamen, homophonen Beginn unverkennbar durch den ganzen Satz zieht. Akkordische Ritardandi bis zum Stillstand unterbrechen immer wieder den Lauf der lang gezogenen, entsagungsvollen Bögen, dann wieder brechen harte, fast geschlagene Akkord und kämpferische Marschrhythmen hervor. Man kann diesen Satz durchaus als Rückblick auf Schuberts Leben betrachten. Der zweite Satz ist an Abgründigkeit kaum noch zu überbieten. Verlorene Sehnsucht lässt die Zeit stillstehen, und nur die gezupften Pizzicati der ersten Geige, von Anna Wildermuth erstaunlich energisch interpretiert, bringen einen Protest gegen die Resignation zum Ausdruck. Dann folgen plötzliche Ausbrüche, die doch wieder in Stillstand übergehen mit nur einzeln tropfenden Tönen, die das Ensemble mit höchster Konzentration auf die perfekte Verzögerung spielte. Trotz oder gerade wegen dieses geradezu beängstigend glaubwürdig interpretierten dynamischen Minimalismus hielt dieser Satz die Spannung bis zum letzten Ton.
Das Scherzo des dritten Satzes überfällt das Publikum vom ersten Ton als schriller, dissonanter Aufschrei eines gequälten Individuums. Es ist der pure Protest gegen ein ungelebtes Leben. Nur wir Nachgeborenen empfinden Schuberts Leben als gelungen, er selbst zeigt sein Lebensgefühl in seiner Musik – die „Winterreise“ lässt grüßen. Man spürt in diesen Phasen förmlich das Aufstampfen mit dem musikalischen Fuß, das sich aber als nutzlos erweist, so dass dieser Satz in eine große Abschiedsgeste übergeht, als wolle Schubert sagen, dass alles doch vergänglich sei.
Der Finalsatz kommt scheinbar als Sammlung von Grinziger Weinliedern daher, so liedhaft und „weanerisch“ wirken die Motive. Doch dahinter lauert eine insistierende Weigerung, diese süßlich Liedhafte als Lebensmotto zu akzeptieren. Die Motive werden zerlegt, mit Gegenstimmen konterkariert und immer wieder durch harte rhythmische Brüche ad absurdum geführt. Die Welt besteht nicht aus Grinziger Weinliedern, auch wenn man sich den Bedingungen beugen muss, will dieser Satz sagen. Die fünf Musiker auf der Bühne brachte diese Ambivalenz der schönen Lieder durch eine konsequente Interpretation immer wieder zum Ausdruck, was man besonders gut an dem guten Zusammenspiel zwischen Anna Katharina Wildermuth und Daniel Müller-Schott bei den wiederkehrenden Zupfpassagen erkennen konnte. Hier schaute man sich in die Augen und platzierte die Töne in genau der richtigen Phrasierung, um ihren Reibungseffekt gegenüber dem liedhaften Thema zum Ausdruck zu bringen.
Nach dem Verklingen der letzten Töne sprang das Publikum – wegen Corona nur im übertragen Sinne – von den Sitzen und spendete begeisterten Beifall für diese großartige Schubert-Interpretation. Glücklicherweise spielte das Ensemble trotz des nicht endenden wollenden Beifalls keine Zugabe, denn was hätte denn nach diesem apotheotischen Streichquintett noch folgen können!
Frank Raudszus
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