Im Grunde genommen hätte der junge Dirigent Benjamin Reiners, GMD des Kieler Theaters, Beethovens siebente Sinfonie benötigt, um seiner Energie eine entsprechende Herausforderung entgegenzusetzen. Doch er hatte sich für die Spätromantik und frühe Moderne entschieden und musste sich an deren eher getragenen, wenn auch nicht undramatischen Tempi abarbeiten.
Am Beginn stand, entgegen den üblichen Spielregeln, Johannes Brahms´ Violinkonzert in D-Dur, op. 77 aus dem Jahr 1878. Es ist das einzige dieser Gattung aus seiner Feder, gehört aber zu den „großen“ Violinkonzerten und zum festen Repertoire des Musikbetriebes. Als Solisten konnte man den Israelischen Geiger Guy Braunstein gewinnen.
Er setzte dann nach dem prägnanten Orchestervorspiel auch gleich mit energischem Strich ein und behauptete sich von vornherein souverän gegen das Orchester. Dieses Konzert behandelt Solist und Orchester als gleichwertige Partner auf Augenhöhe, und da besteht angesichts der Klangfülle eines Orchesters stets die Gefahr, dass die Solo-Violine ins Hintertreffen gerät. Nicht jedoch Guy Braunstein, der von Anfang die Aura der spätromantischen Nostalgie überzeugend zum Ausdruck brachte. Im Gegensatz zur Vorwärtsorientierung der Klassik – Stichwort „Aufklärung“ – ist die spätromantische Musik stark von der Verunsicherung durch die rasanten gesellschaftlichen Umbrüche der Industrialisierung geprägt. Ohne dieser Musik explizite Programmatik unterstellen zu wollen, sind doch die langen Bögen der Sehnsucht nach einer vermeintlich guten alten Zeit nicht zu überhören. Gerade der erste Satz dieses Konzerts klingt wie ein langer „Nach-Traum“ von Klassik und Frühromantik, ohne dabei jedoch je sentimental zu werden. Daran hatten an diesem Tag natürlich auch Solist und Dirigent ihren Anteil, die beide jegliche falsche Gefühligkeit durch Präzision und Prägnanz von vornherein ausschlossen.
Dieser Traum einer vergangenen Zeit wird dann immer wieder unterbrochen durch einige absteigende, hart gestrichene Akkorde, die vom Orchester wiederholt und damit verstärkt werden. Man kann sie als Weckruf der Realität interpretieren. In der Kadenz kurz vor dem Ende des weit ausladenden Satzes zeigte Guy Braunstein dann sein hohes technisches Können und seine Interpretationskunst, die alle Facetten dieser Musik wie in einem Brennglas bündelte. Der zweite Satz, den ein Kritiker wegen des einleitenden Oboen-Solos einst als Zumutung für den Violin-Solisten bezeichnete, liefert intensive Reminiszenzen im Sinne des erwähnten spätromantischen Traums in Gestalt von Variationen des von der Oboe vorgetragenen Themas. Guy Braunstein, der offensichtlich recht gut mit dem Oboen-Solo leben konnte, trug diese Variationen mit hoher musikalischer Intensität vor und ließ dabei das Thema in den verschiedensten Formen neu erstehen. Der Finalsatz schließlich, ein „Allegro giocoso“, kam vielleicht eine Spur zu getragen daher, was jedoch der Wirkung keinen Abbruch tat. Nach einem tänzerischen Beginn verströmte der Satz nach den rückschauenden ersten beiden Sätzen doch noch eine verhaltene Aufbruchsstimmung, als habe Brahms ausdrücken wollen, dass man nach vorne schauen müsse.
Orchester und Solist zeigten bei diesem Werk, nicht zuletzt dank des energiegeladenen Dirigats von Benjamin Reiters, eine ausgesprochen gut abgestimmte und ausgewogene Leistung, die sich in präzisen Einsätzen, Klangfülle und Stimmtransparenz zeigte. Das Publikum spendete starken und ausdauernden Beifall, so dass Guy Braunstein noch eine Zugabe spielte: sechs virtuose Variationen des Stücks „Blackbird“ der weithin unbekannten Komponisten John Lennon und Paul McCartney.
Nach der Pause wechselte das Programm mit Maurice Ravels „Le Tombeau de Couperin“ ins zwanzigste Jahrhundert. Das viersätzige Orchesterwerk basiert auf barocken Tänzen wie Menuet oder Rigaudon und ist verschiedenen im Ersten Weltkrieg gefallenen Musikerfreunden Ravels gewidmet. Das einleitende Prélude ist von flirrenden Streicherklängen geprägt, das darauf folgende Forlane (ein alter friaulischer Tanz) kommt tänzerisch wiegend daher, zeigt aber deutlich die harmonischen Eigenschaften des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Das Menuet des dritten Satzes wirkt verhalten, stellenweise fast somnambul, und erst der Rigaudon des letzten Satzes trägt lebhafte Züge und ist vor allem durch die Präsenz der Blechbläser geprägt. Der besondere Charakter dieses Werkes besteht in der Verbindung von barocken Vorlagen mit moderner Harmonik und neuen Klangformen. Man ahnt einerseits die musikalische Epoche des Namensgebers Couperin und sieht sich doch mit der Musik des zwanzigsten Jahrhundert konfrontiert. Benjamin Reiters schaffte es, diese klangliche Ambivalenz überzeugend zum Ausdruck zu bringen, und erreichte damit einen reizvollen musikalischen Schwebezustand.
Zum Schluss erklang Paul Hindemiths dreisätzige Sinfonie „Mathis der Maler“ aus dem Jahr 1934. Der erste Satz, das „Engelkonzert„, erinnert in seiner anfänglichen Verhaltenheit noch ein wenig an die Musik Maurice Ravels und entwickelt im weiteren Verlauf choralartige Züge. Der zweite Satz, die getragene „Grablegung„, enthält verschiedene Bläser-Soli, die dem Satz eine introvertierte Aura verleihen, und der Finalsatz, „Die Versuchung des heiligen Antonius„, entwickelt sich aus einem anschwellenden Beginn der Streicher zu wild bewegten und dramatischen Ausbrüchen, bei denen die Blechbläser für scharfe Kontraste sorgen und am Ende zu einer unüberhörbaren Apotheose führen. Gerade in diesem kontrastreichen Satz zeigten Dirigent und Orchester noch einmal hohe Präzision, transparente Stimmführung und – vor allem – Spielfreude.
Das Publikum zeigte seine Begeisterung für diesen gelungenen Einstand nach langem Corona-Entzug durch kräftigen und lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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