Das Theaterpublikum zumindest des bürgerlichen (einund)zwanzigsten Jahrhunderts erwartet von jedem Stück eine konkrete Aussage oder zumindest einen klar erkennbaren Zweck. Letzterer kann in der Unterhaltung oder in der Belehrung liegen, erstere in der Schilderung menschlicher Schwächen oder in der Abhandlung eines typischen Konflikts. Diese nicht zuletzt durch die rationale Organisation der kapitalistischen Wirtschaftsform bedingte Erwartungshaltung unterlief zuerst das „absurde Theater“ der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, indem es sie negierte und scheinbaren Un-Sinn auf die Bühne brachte. Protagonisten dieser Richtung sind Eugene Ionesco und Witold Gombrowicz, letzterer zumindest mit seinem Stück „Yvonne, die Burgunderprinzessin“.
In diesem Stück verweigert der Autor nicht nur die Erstellung einer konsistenten, sich dramatisch entwickelnden Handlung, sondern unterstreicht diese Verweigerung auch durch eine bis zur Groteske gesteigerte Darstellungsform, die den Figuren jegliche charakterliche Individualität abspricht und sie in Worthülsen und marionettenhaften Bewegungen erstarren lässt.
Die „Handlung“ ist schnell erzählt: Prinz Philipp will Yvonne, die fremde Prinzessin aus Burgund, heiraten, die jedoch trotz körperlicher Anwesenheit weder redet noch sonst sich in irgendeiner Weise kundtut. König Ignaz und Königin Margarethe sind erst verwundert, dann gegen diese Heirat. Eine andere Frau und ein Kammerherr sowie zwei Freunde des Prinzen runden das Personaltableau ab. Nach kurzer Zeit des Bestehens auf der Heirat entschließt sich der Prinz, eine andere Frau zu heiraten. Parallel beschließen das Königspaar und der Prinz, die fremde Prinzessin umzubringen. Der König will es mit den Gräten eines Fischmahls versuchen, der Prinz mit dem Messer. Ohne weitere Begründungen oder gar Gewissenskonflikte gehen sie ans Werk, wobei der Prinz das Messer nicht ansetzen kann, der Grätentrick jedoch funktioniert. Nach dem Tod der Prinzessin zieht die ganze Mördermeute ob vollbrachter Tat guten Gewissens ab.
Der Mord wird hier in derart sachlicher und emotionsloser Form dargestellt, dass sich jegliche Konfliktbeschreibung erübrigt. Auch Fremdenhass oder gar Assoziationen an das Dritte Reich lassen sich hier nur schwer konstruieren, weil einfach die irrationale Emotion fehlt. Das vollständige Fehlen moralischer Grundsätze verhindert von vornherein jeglichen Anschluss an bürgerliche Kultur- und speziell Theatervorstellungen. Es stellt sich also die Frage, welchem Zweck solch ein Stück, selbst wenn man es mit dem Titel „absurd“ versieht, dienen soll. Denn „absurd“ ist eine fast schon hilflose Bezeichnung, da sie lediglich die Kapitulation vor einem alle bekannten Maßstäbe verleugnenden Stück ausdrückt. Will man nicht mangelnde Intelligenz und menschliche Empathie auf Seiten des Verfassers diagnostizieren, muss in der Absurdität eine Absicht stecken. Mangels einer nachvollziehbaren Aussagestruktur lassen sich wenig Anhaltspunkte im Text selbst finden, so dass die Interpretation sozusagen im luftleeren Raum stattfinden muss. Die nächstliegende Deutung liegt dann darin, dass dieses Stück die automatisierte Handlungsweise der menschlichen Gesellschaft und ihre innere Leere zum Ausdruck bringen soll. Das Stück zieht daher den Vorwurf, Leere durch darstellerische Leere wiedergeben zu wollen, geradezu auf sich.
Die Regisseurin Mateja Koleznik hat dennoch den Mut aufgebracht, dieses Stück auf die Bühne zu bringen, und ist damit zumindest nicht gescheitert. Es gelingt ihr, sowohl den erhobenen Zeigefinger wegen fehlender Moral als auch die Banalität platter Komik zu vermeiden, beides typische Gefahren bei der Inszenierung eines absurden Stückes.
Das Bühnenbild besteht aus einer ringartigen Scheibe, die als Kreis einiges Assoziationspotential mit dem Immergleichen beinhaltet. Eine konzentrische Innenscheibe hebt sich in verschiedenen Schrägstellungen aus diesem Ring heraus und erlaubt die Hervorhebung einzelner Personen oder die Verdeckung des Hintergrunds. Koleznik nutzt denn auch vor allem den Ring dazu, die Darsteller in bewusst manirierter Form im Kreise laufen zu lassen und damit den sinnlosen gesellschaftlichen Mechanismus zu karikieren. Matija Ferlin hat dazu groteske Kostüme geschaffen: trapezförmige Röcke mit und ohne Rüschen und in verschiedenen Farben sowie hoch aufgetürmte, erstarrte Kunstfrisuren. Die Personen erscheinen darin wie überzeichnete Karikaturen des späten Rokoko, ohne dass diese Epoche dabei eine Rolle spielt.
Die Sprache ist der heutigen Alltagssprache angepasst, wodurch die lakonischen Bemerkungen der Protagonisten eine besondere inhaltliche Schärfe entwickeln. In klassischer Sprache erscheinen selbst die größten Gemeinheiten noch irgendwie formvollendet, in heutiger Umgangssprache nur kalt. Auch die Körpersprache der Darsteller vermeidet jede „Haltung“ und lässt damit die Ungeheuerlichkeit des Mordes zur alltäglichen Pflichtaufgabe werden. Hier klingt dann schon ein wenig der Ton der SS in den Berichten über KZs mit, ohne dass dies weiter verdeutlicht wird. Überhaupt verzichtet Koleznik auf jegliche politische Aktualisierung und vertraut voll auf die Assoziationsfähigkeit des Publikums. Und so vollzieht sich denn auch die letzte Szene eher sachlich, wenn der König beim so geordneten wie gelassenen Abmarsch nach dem Mord nur nebenbei erwähnt, man solle die Leiche entsorgen, um lästige Folgen zu vermeiden.
Dem Ensemble gelingt es, durch Zurücknahme aller charakterlichen Individualität eine für dieses Stück falsche Emotionalität zu vermeiden und das Stück auf dem schmalen Grat zwischen schwerer Moral und platter Komik über die Bühne zu bringen. Es wird gerade deswegen viele Besucher verstört oder zumindest irritiert haben, aber das war auch die Absicht von Autor und Regie.
Das Publikum spendete den Akteuren anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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