Im Mittelpunkt dieses Romans, den man eher als eine fiktionalisierte Biographie bezeichnen kann, steht ein englischer Jude, dessen Urgroßvater als Kind aus dem östlichen Polen nach England auswanderte – oder besser: floh. Die Ironie wollte es gemäß der Vermutung der Autorin wohl, dass der Junge eigentlich nach Amerika wollte, aber aus Unwissenheit in London hängen blieb.
Die Geschichte wird aus der Perspektive einer Frau aus Berlin geschildert, die als junge Frau zusammen mit dem „Engländer“, wie sie den namenlosen englischen Juden nennt, in London und anderen Orten gegen die jeweiligen politischen Verhältnisse demonstriert hat und mit ihm eine jahrelange Beziehung unterhielt. Über die Erzählerin erfährt man nicht mehr, als dass sie einen Sohn ohne Vater hat und einige Zeit in Frankfurt lebte. Mit dem Engländer demonstrierte sie nicht nur in den siebziger Jahren für verurteilte Hausbesetzer in London, sondern fuhr auch spontan mit ihm 1974 in das von Salazar befreite Portugal oder später in das franco-freie Spanien. Man war kompromisslos links und protestierte überall gegen die Verhältnisse. Die Erzählerin thematisiert jedoch diese Proteste nicht, sondern berichtet nur mehr oder minder knapp darüber, wobei die reale und vor allem die soziale Topographie Londons wichtiger sind als der Grund für die Proteste. Damit bereitet die Autorin bereits den familiären Hintergrund des „Engländers“ vor.
Dieser wächst in ärmlichsten Verhältnissen im Osten Londons auf, befreit sich aus dem sozialen Ghetto und schafft sogar ein Studium. Doch fühlt er sich nirgends und nie „zu Hause“ oder „angekommen“. Zur Unterschicht gehört er nicht mehr, aber den Zugang zur englischen Mittel- und Oberschicht erhält er auch nicht, wobei die Gründe dafür nicht weiter thematisiert werden. In Berlin baut er während seiner Beziehung mit der Erzählerin mit herumlungernden Jugendlichen ohne Perspektive ein Straßentheater auf, dass den Zeitgeist der späten Siebziger trifft und deshalb von Erfolg zu Erfolg eilt. Das verschafft ihm Zugang zu „progressiven“ öffentlichen Theatern in Deutschland und führt zu einer Regie-Karriere, die er sich nie hätte träumen lassen. Doch seine Unruhe lässt ihn die erreichten Dinge verwerfen und neue beginnen, worunter die Beziehung schließlich zerbricht. Während weiterer solcher Brüche zieht er sich immer wieder nach London in seine ärmliche Wohngegend zurück, die ihm als einzige so etwas wie ein Heimatgefühl vermittelt.
Dort ist auch sein geliebter Fußballverein, die „Tottenham Hotspurs“ angesiedelt, und von seinem Vater hat er die Liebe und Treue zu diesem Vorstadtverein übernommen. Die „Spurs“ ersetzen so die soziale Verankerung in der Gesellschaft, die ihm nicht gelingen will. Er heiratet zwar irgendwann und wird sogar Vater, doch löst er sich bald wieder von dieser Familie und reist rastlos durch Europa, wobei er immer wieder bei seiner alten Liebe in Berlin Rast macht. Das wiederum ermöglicht der Erzählerin, seinen weiteren Werdegang zu verfolgen. Irgendwann nimmt er sogar eine Regiestelle in der polnischen Heimat seiner Ahnen an, im Grunde genommen nur, um endlich seine Herkunft zu klären und Ruhe zu finden. Doch irgendwann weit nach der Wende erklären ihm die re-nationalisierten Polen, dass Ausländer in wichtigen Posten nicht mehr gerne gesehen werden.
Schließlich erhält er durch einen unerwarteten Anruf Zugang zu seinen Vorfahren. Eine Stammbaumforscherin hat ihn ausfindig gemacht und lädt ihn zu einem Treffen aller lebenden Verwandten ein. Dort erfährt er zum ersten Mal, das der Urgroßvater seinen Kindern ein großes Vermögen vermacht und nur seinen, des Engländers, Großvater vom Erbe ausgenommen hatte. Nun erwacht sein Ehrgeiz, und er beginnt eine Recherche in alten Zeitungen und Gerichtsakten. Was er dabei erfährt, entsetzt ihn und wirft kein gutes Licht auf den Urgroßvater und die entfernten Verwandten. Doch er gewinnt trotz oder gerade wegen dieser Erkenntnisse ein Gefühl der Verankerung in der Welt, wenn das die Erzählerin auch nicht explizit zum Ausdruck bringt.
Der Roman ist durchgehend im Präsenz gehalten, auch bei Rückblenden in die Vergangenheit, und gewinnt dadurch einen dokumentarischen Charakter. Darüber hinaus fällt der ausgesprochen lakonische Stil auf, der nie persönliche, emotionale Züge annimmt. Selbst die eigene Beziehung der Ich-Erzählerin mit dem Protagonisten wird nur wie ein entferntes, zufälliges Treffen beschrieben, das scheinbar keinerlei Emotionen geweckt hat. Das steht in gewissem Widerspruch zu den engagierten politischen Protesten in den siebziger Jahren, die ja stark auf sozialen Emotionen basierten. Die Ich-Erzählerin beschränkt sich auf eine ausschließlich faktenbasierte Wiedergabe der Ereignisse und Erlebnisse des Protagonisten, ohne sie einer irgendwie gearteten Beurteilung zu unterziehen. Erstaunlicherweise spielen auch das Dritte Reich und der Holocaust so gut wir keine Rolle, eben, weil es in der realen Vorlage dieser Familie wohl keine unmittelbaren Kontakt mit dem Nationalsozialismus gegeben hat.
Der Roman ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 143 Seiten und kostet 20 Euro.
Frank Raudszus
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