Das letzte Mal zeigte das Staatstheater Darmstadt Büchners „Dantons Tod“ vor acht Jahren im 200. Geburtsjahr des Darmstädter Dichters als packendes Schauspiel. Jetzt hat Christoph Mehler sich dieses Stücks am selben Ort angenommen, aber unter ganz anderen Voraussetzungen. Aktuelle Anlässe sind nicht erkennbar, da die Zahl sozialistischer Revolutionen nach dem Desaster in Venezuela deutlich geschrumpft ist. Doch das Thema liegt latent immer in der Luft, da der Kapitalismus seine Reizwirkung auf linke Ideologen nicht verloren hat.
Mehler reduziert das Stück auf eine reine Sprechversion, bei der das von dreißig auf sechs Rollen reduzierte Figurentableau – Danton(Daniel Scholz), Camille Desmoulins(Jörg Zirnstein), Philippeau(Anabel Möbius), Robbespierre(Marielle Layher), Mathias Znidarec(St. Just) und Julie(Gabriele Drechsel) – auf einem schmalen Steg vor dem eisernen Vorhang des Großen Hauses die jeweiligen Texte sich gegenseitig und dem Publikum vorträgt. Die schwarz-weißen Kostüme erinnern entfernt an die Zeit der französischen Revolution, und Jörg Zirnstein trägt als historischen Hinweis noch eine rote (Jakobiner-)Mütze.
Ob nun die aktuelle bauliche Situation am Theater oder die Corona-Krise – Abstände der Darsteller untereinander – diese Art der Inszenierung erzwang oder ob Christoph Mehler sie aus rein künstlerischen Gründen wählte, ließ sich weder aus dem Programmheft noch aus den einleitenden Begrüßungsworten des Intendanten erschließen. Im letzteren Fall stellt sich allerdings die Frage, welchem Zweck dann eine szenisch derart reduzierte Inszenierung dienen könnte. Ein Grund könnte in den revolutionären(!) Gedanken zum Theater liegen, die derzeit intensiv diskutiert werden. Nicht zuletzt die diversen globalen Krisen haben zu der Forderung geführt, ein völlig neues Theater der politischen Teilhabe und der moralischen „Bedeutung“ zu schaffen. Aus dieser Sicht stellt der Unterhaltungsaspekt des szenischen Theaters, das über alltägliche Handlungsstrukturen Nachvollziehbarkeit und Identifikation seitens des Publikums bewirkt, ein affirmatives Element dar, das die politische Aussage eines Stückes nur verwässert. Vielerorts fordern Theateraktivisten einen Wechsel von der Darstellung zur Veränderung der Welt, was nur durch engagierte Parteinahme und unmittelbare Aktivierung des Publikums geschehen könne. In diesem Falle wäre zu prüfen, inwieweit die vorliegende Inszenierung diesen Anspruch erfüllt.
Nachdem das Ensemble in voller sechsköpfiger Stärke die Bühnenrampe betreten hat, bleibt es erst einmal frontal zum Publikum stehen und tut – nichts. Eine Minute schweigen ist eine Mahnung an Sammlung und Aufmerksamkeit, zwei Minuten enthalten bereits eine – wie auch immer geartete – Aussage, doch bei drei Minuten beginnt die Provokation des Publikums. Denn ein nicht agierendes Ensemble stellt eine solche zumindest implizit dar. Doch dann beginnt Daniel Scholz alias Danton zu reden.
Die folgenden neunzig Minuten bestehen aus dem Vortrag der Büchnerschen Mono- und Dialoge mit semi-szenischem Charakter. Die jeweils sprechende Person wendet sich zwar meist dem Publikum zu, bisweilen jedoch auch dem angesprochenen Gesprächspartner. Aufgrund der statischen Positionen auf der schmalen Bühne nehmen diese „Dialoge“ jedoch nie wirkliche Gesprächsform an, sondern wirken eher wie einseitige Verlautbarungen. Bei Robbespierre wirkt das fast schon natürlich, weil dieser Ideologe sich in jeder seiner Verlautbarungen an alle richtet, und auch Danton spricht mehr mit sich als mit seinen Dialogpartnern. Sein Inneres ist durch die irreversible Brutalisierung der Revolution derart zerrissen, dass er sich kaum auf seine Gesprächspartner konzentrieren kann. Ihre Worte, etwa die von Philippeau, sind nur Stichworte für quälende Betrachtungen über die Lage der Revolution und die eigene Rolle darin. Und seine Verteidigungsrede vor Gericht ist sowieso ein einziger, ausgedehnter Monolog. Doch die anderen Rollen sind in weit stärkerem Maße Dialogpartner, die auf eine Reaktion warten. Diese Dialoge entfalten aufgrund der Inszenierung keine szenische Wirkung mehr.
Doch eine – vielleicht auch so intendierte – Wirkung dieser szenisch schwach gekoppelten Redebeiträge liegt in ihrem Verlautbarungscharakter. Nicht nur Robbespierres Beiträge kommen wie reine Revolutionspropaganda her, sondern auch die Ausführungen der anderen Figuren gewinnen einen parallelen, voneinander unabhängigen Charakter. Jeder redet für sich, niemand hört mehr zu. Das kommt am stärksten bei Danton zum Ausdruck, liegt bei ihm aber daran, dass er sowohl für sachliche, seiner Rettung dienende Aussagen als auch für die hinterhältigen, auf seine Verurteilung abzielende Angriffe aufgrund seines inneren Zustandes kaum noch empfänglich ist. Seine flammende Rede am Schluss gegen seine Feinde kommt zu spät, wie er selbst weiß.
Dass der Verzicht auf szenische Gestaltung zu erheblicher Textlastigkeit führt, versteht sich von selbst. Das lässt sich auch nicht durch verschiedene Bewegungselemente oder eingespielte Geräusche – etwa der Klang einer niederrauschenden Metallplatte! – kompensieren. So legen sich die Darsteller einmal aus nicht unmittelbar nachvollziehbaren Gründen auf den Boden, oder auf die Erwähnung eines – natürlich metaphorisch – „brüchigen Bodens“ reagieren alle mit Entsetzensschreien und hektischen Bewegungen. Dann wieder stellen Anabel Möbius und Jörg Zirnstein mehrere Male die berühmte Pietá in wechselnder Rollenverteilung nach: die Revolution stirbt in den Rahmen ihrer Urheber oder „die Revolutionäre frisst ihre Kinder“. Das wäre als einmalige Einlage durchaus originell, doch durch die Wiederholungen wird es zum Klischee und fast schon „pietá-los“.
Der Haupteinwand gegen diese Inszenierung ergibt sich jedoch aus akustischen Effekten. Mehler lässt vor allem Daniel Scholz als Danton über weite Strecken sehr leise reden, ja: stellenweise geradezu flüstern. Das soll wohl seine innere Zerrissenheit und seine existenzielle Verunsicherung widerspiegeln, hat aber zur Folge, dass nur noch die Hälfte seiner Worte beim Publikum ankommen. Aufgrund der fehlenden szenischen Unterstützung erschließt sich die Logik dieses Stückes nur noch guten Kennern des Textes. Doch eine Theaterweisheit behauptet, dass jedes Stück aus sich selbst und ohne Vorkenntnisse des Publikums verständlich sein muss. Das ist bei dieser Inszenierung nicht mehr der Fall. Gerade im Großen Haus, in das diese Aufführung wegen der Restaurierung des Kleinen Hauses verlegt wurde, verlieren sich leise gesprochene Sätze und Worte schon ab der fünften oder sechsten Reihe. Hier muss die Regie unbedingt nacharbeiten, will sie mit der Inszenierung keinen Schiffbruch erleben.
Die Darsteller geben angesichts der begrenzten Möglichkeit ihr Bestes. Daniel Scholz verleiht seinem Danton existenzielle Tiefe und Verlorenheit, Marielle Layher bringt die fast schon mechanistische Eigenmanipulation Robbespierres überzeugend zum Ausdruck, und Anabel Möbius ist für den positiven revolutionären und menschlichen Geist zuständig. Jörg Zirnstein spielt einen von Beginn an gebrochenen Camille, Mathias Znidarec wirft die intriganten Sätze des St. Just mit gespielter Unschuld auf die Bühne, und Gabriele Drechsels Julie verzweifelt an dem Blutrausch der Männer um sie herum.
Das Premierenpublikum spendete allen Beteiligten freundlichen Beifall.
Frank Raudszus
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