Chief Inspektor Caleb Hale im englischen Scarborough kann, mit einigen Whiskeys im Blut, den Verzweiflungsmord eines Mannes an seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern nicht verhindern und wird deswegen suspendiert. Gleichzeitig wird seine neue Mitarbeiterin Kate, die er von früher kennt und schätzt, auf dem Wege zu ihrer neuen Dienststelle Zeugin eines Mordversuchs an einer Mitreisenden, den sie nur mit Glück abwehren kann. An einem anderen Ort fällt eine junge, lebenslustige Lehrerin bei ihrer morgendlichen Fahrradtour einem über den Weg gespannten Draht zum Opfer und wacht erst im Krankenhaus querschnittsgelähmt wieder auf.
So beginnt Charlotte Links Roman „Ohne Schuld“ mit viel Schrecken. Der Chief Inspektor kann trotz Suspendierung nicht loslassen, und als ihn die nichts ahnende Kate anruft, beginnen sie sofort auf privater Basis zu recherchieren, allerdings anfangs ohne jegliche Hinweise oder Verdachtsmomente. Die allwissende Autorin jedoch versorgt den Leser bzw. Zuhörer mit ihrem Erzählerinnen-Wissen und führt neue Personen ein, die zu den anfänglichen Ereignissen in keinerlei Verbindung zu stehen scheinen. Das wird sich aber im Laufe der weiteren Handlung ändern.
Langsam schält sich eine Familientragödie als Hintergrund heraus, bei der ein unschuldiger kleiner Junge in einem Heim für Schwererziehbare landet, wo er die blanke Brutalität des Lebens kennenlernt. Nur die Bekanntschaft zu einem anderen Insassen der Anstalt, der ebenfalls Rachepläne gegen Menschen hegt, die ihn – allerdings zu Recht – hierher gebracht haben, hilft dem kleinen Jungen, zu überleben und erwachsen zu werden.
Doch der Chief Inspektor und seine heimliche Mitarbeiterin – ihre Anstellung wird erst in einigen Tagen beginnen – kennen diese Hintergründe natürlich nicht und müssen sich mühsam von der Peripherie der Ereignisse zum Kern vorarbeiten. Dabei merken sie schnell, dass der oder die Täter kompromisslos brutal vorgehen und im Zweifelsfall vor weiteren Morden nicht zurückschrecken. Es beginnt ein Rennen um Stunden und Minuten, der Täter nimmt Geiseln, erschießt Mitwisser, wenn sie ihm nicht mehr nützen, und schließlich fällt auch Kate in seine Hände. Die Situation erscheint ausweglos.
Doch es gibt auch in der hoffnungslosesten Situation immer eine kleine Chance, und im Roman wird diese meist mit Mut und Glück genutzt, so dass die Dinge sich zu wenden beginnen. Im echten Leben ist das seltener der Fall.
Wie dieser Thriller endet, wollen wir hier nicht verraten, um interessierten Lesern bzw. Hörern nicht die Spannung zu rauben. Nur soviel: auf ein „Happy End“ mit der Bestrafung der Bösen und Erlösung der Guten sollte man nicht rechnen. Insofern setzt Charlotte Link mehr auf Realistik als auf die guten Gefühle des Publikums. Für sie ist das Böse ein inhärenter Bestandteil der Welt, unabhängig davon, wie es zustande kam. Und sie weigert sich, das Märchen vom vollständigen Sieg des Guten und der Niederlage des Bösen zu erzählen. Bei ihr sitzen die Protagonisten zum Schluss als gezeichnete Figuren vor einer zerborstenen Welt, spielen mit der Resignation, bleiben aber im Innersten dabei.
Claudia Michelsen liest diesen Roman mit einer Eindringlichkeit, die den Hörer nicht loslässt, und kann sich auch stimmlich in die verschiedensten Charaktere glaubwürdig hineinversetzen.
Das Hörbuch ist bei Random House Audio erschienen, umfasst 12 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 10 Std. und 33 Minuten und kostet 13 Euro.
Frank Raudszus
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