Goethes „Faust“ gehört zum – zumindest deutschen – Allgemeinwissen wie Mozarts „Zauberflöte“, und die Sekundärliteratur dazu seit dem frühen 19. Jahrhundert dürfte ganze Schrankwände füllen. Da nimmt es wunder, wenn im Jahr 2021 eine neue Interpretation auf den Markt kommt, denn Neuigkeiten erwartet zu diesem Thema niemand mehr. Doch das stellt sich bei der Lektüre bald als Irrtum heraus, denn der Autor Michael Jäger deutet vor allem den zweiten Teil, der Generationen von Schülern und wohl auch Lehrern Rätsel aufgab, als das erste Drama der Moderne und belegt das systematisch und nachvollziehbar an jedem Akt des zweiten Teils.
Dabei entpuppt sich der erste Teil der Tragödie – „Faust I“ – noch als klassisches Narrativ, das jedoch lange Zeit in zwei disparate Teile zerfiel: die Geschichte des nach Welterkenntnis ringenden Faust und seines Paktes mit Mephisto und die Tragödie von Gretchen. Das Faust-Thema entnahm Goethe dabei dem Schwank „Dr. Faustus“ und passte es an seine eigene Zeit an. Jaeger sieht hier noch die Phase des „Sturm und Drang“ wirken, die Goethe selbst gegründet und – mit dem „Werther“ – befeuert hat. Aus dem volksnahen „Teufel“ ist jedoch mit Mephisto ein moderner Materialist, ja: Zyniker geworden, der sich leicht als skrupelloser Karrierist eines heutigen Großkonzerns denken ließe. Die ersten Jahre nach 1770 beschäftigte sich Goethe mit Pausen mit diesem Stoff und legte laut Jaeger Wert darauf, die Gegensätze herauszuarbeiten. Hier der nach vorne drängende Faust, der die „Erdeschranken“ sprengen will, dort Margarete, die fest in das traditionelle Welt- und Lebensmodell eingebunden ist. Diesen Stoff entwickelte Goethe aus seinen Erfahrungen als Frankfurter Bürger und Anwalt mit zwei Prozessen und Hinrichtungen von Kindsmörderinnen, die ihn offensichtlich schockiert hatten.
Dieser erste Teil hat eine Reihe verschiedener Versionen durchlaufen. Jaeger zeigt detailliert und methodisch, wie Goethe mit dem Stoff kämpfte und vor allem die beiden Geschichten nicht nur sinnvoll miteinander zu verbinden, sondern auch eine Einheit zu erzielen versucht. Dabei kommt Goethes eigene Situation als Motivationsbasis gut zum Ausdruck. Das Leben in Weimar empfand er als einengend – „Studierstube“! – und seinem Weltendrang nicht angemessen. Der Italienaufenthalt war zwar für Goethe eine Befreiung von der Weimarer „Studierstuben-Enge“ einschließlich befriedigender bis glücklicher erotischer Erfahrungen, doch im „Faust“ schlug sich diese Weltöffnung nicht nieder, sondern sein Titelheld wurde noch mehr in Richtung des „alles oder nichts“ geschärft. Goethe konnte sich offensichtlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum „verweilenden Augenblick“ durchringen und trennte – noch! – reales Leben und dramatische Arbeit. Einige Szenen wie die „Hexenküche“ jedoch entstanden aus römischen Erfahrungen.
Jaeger geht auf die Arbeit an „Faust I“ sehr detailliert ein und versieht jede Einfügung und Änderung mit entsprechenden Lebenssituationen des Autors, um so Autor und Werk konsistent miteinander zu verbinden. Für jede Variante findet er Begründungen, die sich entweder aus Goethes Leben oder seiner näheren und weiteren Umwelt erklären lassen. Die Lektüre der Entstehung von „Faust I“ ist wie ein Puzzlespiel, das sich langsam entwickelt und dabei zunehmend an Konsistenz gewinnt.
In „Faust II“ fehlt auf den ersten Blick das zupackende, realitätsnahe Narrativ. Die Sprünge zurück in die Antike oder ins Mittelalter wirken unmotiviert und verwirren den eine klassische Handlung erwartenden Leser. Doch Jaeger zeigt auf überzeugende Weise an der Entwicklung des zweiten Teils der Tragödie, wie Goethe die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit verarbeitete. Da wirken die Zeitsprünge dann zwar immer noch surreal, aber durchaus verständlich.
Der romantische, fast lyrische Beginn mit Fausts „Erwachen in Arkadien“ verweist auf Goethes Liebe zu den südlichen Gefilden – Arkadien gleich Italien – und verdeutlicht noch einmal die klassische Versuchung des zum Verweilen verlockenden Augenblicks. Laut Jaeger rangen tatsächlich zwei Seelen in Goethes Brust: die den Augenblick bewusst genießende und die zur Erkenntnis vorwärts drängende. Im Gegensatz zur vorherrschenden letzteren Seele der Jugend in „Faust I“ – Stichwort „Sturm und Drang“ – gewinnt die kontemplative Seele im Alter zunehmend die Oberhand. Das weist Jaeger auch im dritten Akt an Hand der ausgedehnten „Helena-Affäre“ nach, in der Goethe noch einmal das Versinken im erotischen Augenblick feiert.
Doch auch das machtbewusste Handeln behauptet seine Position, wenn auch mit kritischen Vorzeichen. Den stets vor der Pleite stehenden Kaiser, der hier metaphorisch für die ums Geld ringenden Fürsten der Goethezeit steht, retten Faust und Mephisto durch die Erfindung des Papiergelds, das angeblich durch Bodenschätze gedeckt ist, und später ins Desaster führt. Goethe spiegelt in dieser Geschichte die entsprechende zeitgenössische Entwicklung und hält seiner noch-feudalen Mitwelt einen Spiegel vor.
Die umfassenden Kanalbauten und und Meereindeichungen im letzten Teil verweisen auf die Industrialisierung Europas, die für Goethe eine Katastrophe darstellte. Für ihn war die Natur etwas Gegebenes, in das sich der Mensch einfügt, und gleichzeitig die Wiege allen Lebens. Sein Faust jedoch tritt am Schluss als Beherrscher der Natur auf, die er ganz nach eigenem Belieben umgestaltet. Philemon und Baucis repräsentieren die in sich und in der Natur ruhenden Bewohner der alten, klassischen Welt, so wie sich die Weimarer Klassik die Antike vorstellte. Der Wanderer, „alter ego“ Goethes, den das „klassische“ Paar einst aus den Wogen der eigenen Zweifel gerettet hatte, muss mit den beiden sterben, wenn Mephisto auf Fausts Wunsch die klassische Heimat des Paares niederbrennt. Das liest sich laut Jaeger, und durchaus nachvollziehbar, als Kritik an der skrupellosen Naturbeherrschung und -zerstörung der Neuzeit. Angesichts der heutigen Klima-Diskussion gewinnt „Faust II“ hier eine ganz aktuelle Bedeutung.
Doch Goethe ist dennoch Optimist und lässt Faust, wie wir wissen, am Ende, als er den schönsten Augenblick in höchsten Tönen lobt, sterben und dann entgegen der Wette mit Mephisto durch eine Engelschar retten. Der Genuss des Augenblicks ist damit endgültig rehabilitiert, wohl auch, weil der Erkenntnisdrang solch düstere Folgen zeitigt.
Wer glaubt, zu Goethes „Faust“ noch neue Ideen sammeln zu können, sollte dieses Buch lesen. Trotz der philologisch und philosophisch anspruchsvollen Thematik liest es sich leicht und verständlich und bietet vor allem noch einmal eine reiche Zitatensammlung von „Faust-Versen“.
Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 128 Seiten und kostet 9,95 Euro.
Frank Raudszus
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