In Friedrich Nietzsches Werk nimmt die Dichtung „Also sprach Zarathustra“ eine zentrale Stellung ein. In diesem Werk wiederum steht an ebenso zentraler Stelle das rätselhafte „Nachtwandlerlied“, das auch unter anderen, ähnlichen Namen bekannt ist. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat sich in dem vorliegenden Buch dieses Gedichts angenommen und interpretiert es nicht nur in einem ausgesprochen weiten Rahmen, sondern seziert es förmlich Wort für Wort und arbeitet daran Nietzsches philosophische Welt heraus.
Der besseren Verständlichkeit halber sei dieses Lied an dieser Stelle rezitiert:
EINS: Oh Mensch! Gieb Acht!
ZWEI: Was spricht die tiefe Mitternacht?
DREI: Ich schlief, ich schlief -,
VIER: Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
FÜNF: Die Welt ist tief,
SECHS: Und tiefer als der Tag gedacht.
SIEBEN: Tief ist ihr Weh -,
ACHT: Lust – tiefer noch als Herzeleid:
NEUN: Weh spricht: Vergeh!
ZEHN: Doch alle Lust will Ewigkeit –
ELF: – will tiefe, tiefe Ewigkeit!
ZWÖLF:
Diesen Zeilen sind jeweils die Glockenschläge der Mitternachtsglocke vorangestellt, die das Lied mit zusätzlicher, rätselhafter Bedeutung aufladen.
Liessmann stellt seiner Deutung eine umfangreiche Genealogie des Lieds und und seines literarischen Zarathustra-Kontextes voran, so dass auch der Nietzsche-Unkundige nicht unvorbereitet auf die zwölf bzw. elf Verse stößt. Dann beginnt die so detaillierte wie weiträumige Interpretation, die im Grunde genommen eine philosophische Würdigung Nietzsches und seiner Zeit darstellt. Dazu ist anzumerken, dass Nietzsche heute aufgrund des gründlichen – und teilweise bewussten – Missverständnisses seines „Übermenschen“-Begriffs vor allem seitens der
Nationalsozialisten, wenn überhaupt, nur mit spitzen Fingern angefasst wird und in einschlägigen Kreisen als „verbrannt“ gilt. Und so ist dieses Buch zu einem Gutteil auch eine Rehabilitation eines der wichtigsten Denker des 19. Jahrhunderts.
Liessmann geht bei seiner Deutung nicht nur zeilenweise, sondern buchstäblich wortweise vor und hinterfragt jeden einzelnen Begriff dieser elf Zeilen, wobei er die Ambivalenzen der Worte freilegt, die uns beim ersten Lesen bekannt, wenn nicht trivial vorkommen. Das beginnt schon bei dem „Oh“ der ersten Zeile, dem Liessmann mahnende, warnende oder gar drohende Bedeutung zuschreibt und damit jeweils völlig neue Perspektiven eröffnet. Das gilt umso stärker für den „Mensch“, aus dem Liessmann Nietzsches Menschenbild entwickelt, das von der Fehlerhaftigkeit dieser Gattung ausgeht – Stichwort „Sieben Todsünden“ – und vom Menschen ein „Über-sich-Hinausgehen“ zum – ethischen! – „Übermenschen“ fordert.
Das „Gieb Acht“ schillert wiederum wie das „Oh“ in den Deutungsmustern von Ermahnung, Warnung oder gar Drohung. Liessmann belässt es natürlich nicht bei dieser Ambivalenz, sondern zeigt die philosophischen und zeitgeschichtlichen. Hintergründe dieser Varianten auf.
Die „sprechende“ Mitternacht führt einerseits zu ausführlichen Erörterungen des Sprechens und seiner Adressaten und andererseits zu weit greifenden Überlegungen über die Bedeutung der Nacht, speziell der Mitternacht und ihrer geistesgeschichtlichen Gegenposition zum Tag mit seiner Helligkeit und Aktivitätsfreudigkeit. Der mit der Nacht logisch und mythologisch eng verzahnte „Schlaf“ erfährt seine Würdigung als das paradigmatische Verschwinden des Bewusstseins und als naher Verwandter – oder Vorstufe – des Todes.
Die bei diesen Worten und Satzgebilden sich entwickelnden philosophischen Überlegungen folgen dabei jeweils aus der Sicht Nietzsches, so wie dieser sie im „Zarathustra“ und anderen Werken zum Ausdruck gebracht hat. Liessmann geht es nicht um eine eigene, subjektive Interpretation dieses Liedes, sondern um Nietzsches Weltsicht, soweit sie sich aus diesen Elementen belegen lässt. Nur wo Ambivalenzen oder gar Widersprüche auftreten, benennt Liessmann sie nicht nur, sondern versucht, diese aufzulösen. Dabei verdeutlicht er, dass Nietzsche sich seiner Widersprüche durchaus bewusst war und sie nicht als philosophische Schwäche betrachtete, sondern als unauflösbare Widersprüche einer im Grunde genommen paradoxen Welt.
Dem „Schlaf“ folgt – zwangsläufig – der „Traum“, der für Nietzsche nicht nur die Aufarbeitung des Tages beinhaltet, sondern den Menschen in die Tiefe seines Bewusstseins führt, womit Nietzsche in gewisser Weise Freud den Boden bereitete. Liessmann geht denn auch detailliert auf die Bedeutung des Traums bei Nietzsche und Freud ein.
Die „Welt“ ist natürlich in seiner Allgemeinheit ein zentraler Begriff und weckt in Kombination mit dem Adjektiv „tief“ Liessmanns Aufmerksamkeit in besonderem Maße. Für Nietzsche bezeichnet dieses Adjektiv die Schichtungen des menschlichen Bewusstseins und die Wirkungen der „Welt“, das heißt der Wirklichkeit außerhalb des Bewusstseins, auf dieses Selbst. Und diese Welt verursacht Leid und „Weh“, was erst einmal keine neue Erkenntnis darstellt. Doch Liessmann extrahiert aus dieser „Weh-Zeile“ Nietzsches Bild des Menschen, der durch seine Fehlerhaftigkeit das – unermessliche – Leid erst erzeugt. Der Mensch ist das einzige nicht in die Natur „eingepasste“ Tier, wie Nietzsche es ausdrückt, verfügt dafür aber über die Fähigkeit der Selbstgestaltung, die er nutzen müsste, um seine Fehlerhaftigkeit zu überwinden – hin zum „Übermenschen“.
Doch die nächste Volte lässt nicht auf sich warten, denn die Lust ist „tiefer noch als Herzeleid“. Vom Herzeleid kommt Liessmann dann auf Wagners „Parsifal“ und Nietzsches Hassliebe zu dem Komponisten. Die letzten Glockenschläge sind dem Verhältnis von Leid und Lust bei Nietzsche gewidmet, und Liessmann zeigt auf überzeugende Weise, dass für Nietzsche beide zueinander gehören und das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Schon Nietzsche – und nicht erst aktuelle Denker – hat sich über eine „Spaßgesellschaft“ beklagt, die das reine Lusterlebnis ohne Schmerz anstrebt oder gar einfordert. Doch für Nietzsche geht die Lust tiefer und will ewige Dauer, und der Schmerz entsteht letztlich durch die Versagung der Lust – aus welchem Grund auch immer. Das „Lust“ bei Nietzsche nicht auf Sexualität reduziert ist sondern eine weit ausgreifende Lebenslust bezeichnet, ist für Liessmann zwar selbstverständlich, aber seiner Meinung nach nicht für die heutige Gesellschaft, weswegen er es noch einmal betont.
Der letzte Glockenschlag ertönt ohne Liedzeile und dröhnt damit besonders laut in die mitternächtliche Stille. In dieser letzten „Leerzeile“ verdichten sich noch einmal alle Gedanken und Erkenntnisse, hoffentlich – im Sinne Nietzsches und des Autors – zu einer eigenen Erkenntnis des Lesers.
Konrad Liessmann geht in diesem Buch weit über eine Interpretation hinaus und breitet anhand dieses Liedes die Welt Nietzsches und seiner Zeit vor den Lesern aus. Dabei spart er auch nicht mit Referenzen und Analogien zur heutigen Zeit und verteilt nebenbei noch so treffende wie lakonische Kommentare zu aktuellen Themen wie „Cancel Culture“ und Gendern.
Das Buch ist im Zsolnay-Verlag erschienen, umfasst 317 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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