Der Kanadier Chilly Gonzales – Jahrgang 1972 – ist ein musikalisches Urgestein und ein Virtuose am Klavier, wenn auch nicht im klassischen Fach. Seine Liebe gilt dem Jazz, wie er ihn versteht, und dieses Verständnis ist nicht unbedingt kongruent mit dem – geschriebenen oder ungeschriebenen – Jazz-Kanon. Am 4. Juli präsentierte er seine Tastenkünste und seine Zweitbegabung als Entertainer im Rahmen des Rheingau Musik Festivals im Kurhaus Wiesbaden.
Schon der Auftritt zeigte mehr als deutlich den Entertainer, der immer für einen Witz gut ist. Nach einem Jahr Corona-Blockade und den unbefriedigenden Streaming-Auftritten als „Home Office“-Musiker erschien er im Morgenmantel und mit Pantoffeln an den Füßen auf der Bühne, wo ihn ein Flügel und – Premiere! – ein Cembalo erwarteten.
Seine Art der Publikumsbegrüßung erfolgte über die Tasten des Flügels. Seine Musik erinnert an den ebenfalls sehr gängigen Ludovico Einaudi: Die musikalischen Motive bewegen sich innerhalb einer harmonischen und dynamischen Komfortzone und kreisen dort um sich selbst und umeinander. Diese Musik liefert kein inhaltliches Narrativ, wie es beispielhaft die klassische Musik mit ausdrucksstarken Themen, dramatischen Steigerungen und Moll-Abstürzen tat, oder wie der „klassische“ Jazz, der über ein markantes Thema in beliebigen Abwandlungen improvisiert. Bisweilen erinnert Gonzales´ Musik sogar ein wenig an die spätromantische Musik eines Debussy, da sie wie dieser die Klangwirkung über das musikalische Motiv stellt und dabei raffinierte Klangflächen erzeugt, die zeitweise Züge der Weltabgewandtheit annehmen.
Aber auch den – außermusikalischen – Spaß vergaß Gonzales nicht. Auf die Tastatur, die dem Publikum über eine Kamera in Aufsicht auf einem Bildschirm präsentiert wurde, legte er plötzlich weiße Blätter mit einfachen Texten wie „Gude wie“ (Hessische Begrüßungsart) oder „F*** Mainz“, was wiederum speziell die Wiesbadener erfreuen sollte.
Musikalisch steigerte sich Gonzales von den um sich kreisenden Figuren zu ostinaten Akkordketten, die er geradezu aus dem Klavier heraushämmerte. Und dazu bemerkte er in einer kleinen Sprecheinlage ganz unschuldig „I´m not sure whether I´m a Jazz musician“. Ganz falsch ist diese augenzwinkernde Selbstironie nicht, denn Jazz-Pianist im klassischen Sinn ist er gerade nicht, sondern jemand, der einfach seine eigenen Songs auf das Klavier bringt. Aber dennoch versteht er etwas vom Jazz, denn er ist nicht nur Fan von Dave Brubecks „Take Five“, sondern spielte es auch an und philosophierte dann über den schlechten heutigen Musikgeschmack, der ein Stück im 5/4-Takt nicht mehr akzeptieren würde. Als abschreckendes Beispiel improvisierte er diese Ikone der Jazz-Geschichte gleich im 4/4-Takt und sogar als Walzer im 3/4-Takt, wobei es ihn selbst vor Grausen schüttelte.
Auch am schmalbrüstigen Cembalo zeigte Gonzales seine Klavierkunst. Fast pflichtgemäß begann er ganz locker mit Bachs Präludium in C-Dur, nur um es dann nach allen Regeln der Kunst abzuwandeln und durch mehrere Variationen zu jagen. Auch seine eigenen musikalischen Erfindungen zeigten auf diesem Instrument alle eine enge Verwandtschaft mit der Barockmusik Bachs, was natürlich als Hommage an diesen zu verstehen war. Doch irgendwann gingen mit ihm die Pferde durch und er ließ seine Finger wieder frei über die Tasten des Cembalos fliegen.
Zurück am Flügel intonierte er noch einige – mal breite, mal geschärfte – Klangflächen und brachte dann mit einem besonders innigen Song sogar den Flügel zum Weinen, wie man auf dem Bildschirm an den aus der Tastatur fließenden Tränen sehen konnte.
Seinen Abschied vom Publikum zelebrierte er förmlich als „Rampensau“ mit dem mehrmals wiederholten Ausruf „Music is back“. Hoffen wir, dass sie jetzt nicht mehr von uns geht!
Frank Raudszus
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