Wer besser verstehen will, wie die Menschen in Israel und im Westjordanland mit dem Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis umgehen, der sollte unbedingt den Roman „Apeirogon“ des irischen Autors Colum McCann lesen. Der Begriff „Apeirogon“ steht für die Vielschichtigkeit des Nah-Ost-Konflikts: Der griechische Begriff „Apeirogon“ bedeutet etwa „unendlich viele Winkel“ (Wikipedia) und bezeichnet eine geometrische Figur, die sowohl gleichseitig als auch gleichwinklig ist und so viele Winkel hat, dass sie fast einen Kreis bildet.
Am Beispiel des Palästinensers Bassam und des Israeli Rami lässt McCann uns miterleben, wie der ungelöste Palästina-Israel-Konflikt sich auf den Alltag der Menschen, auf ihr inneres Erleben und auf ihre politischen Einstellungen auswirkt. Dabei geht es McCann darum, eine möglichst objektive Sicht auf beide Seiten zu haben, indem er historische Hintergründe, politische Entscheidungen und Reaktionen in der jeweiligen Bevölkerung beleuchtet.
Rami und Bassam sind keine literarischen Figuren, sondern tatsächlich lebende Personen, die ein gemeinsames Schicksal zusammenkommen lässt. Beide haben eine Tochter verloren: Bassams 10-jährige Tochter wurde Opfer des Querschlägers aus der Waffe eines israelischen Soldaten, Ramis Tochter Opfer eines palästinensischen Selbstmordattentats.
Beide begegnen sich in einem palästinensisch-israelischen Elternzirkel, in dem der Versuch unternommen wird, Hass und Rachegelüste sowie ein stereotypes Feindbild zu überwinden und stattdessen den Menschen im anderen zu sehen.
McCann hat mit Rami und Bassam viele Gespräche geführt, beide lässt er im mittleren Teil selbst zu Wort kommen. Darüber hinaus hat McCann von beiden die Erlaubnis erhalten, ihre jeweils individuelle Geschichte in eine Erzählung zu integrieren, die sich literarische Freiheiten nimmt.
So gelingt es McCann, die Lebensbedingungen der Palästinenser vor bzw. seit der israelischen Besatzung zu zeigen. Dabei wird die Brutalität des israelischen Vorgehens in keiner Weise beschönigt. Die Vertreibung der Palästinenser aus ihren ursprünglichen Behausungen, auch aus den Gemeinschaften der bewohnten Höhlen, die Zerstörung der Infrastruktur, der Bau der Mauer, die viele Palästinenser von ihren Feldern und Olivenhainen trennte, die täglichen Schikanen an den Grenzübergängen nach Israel machen die Wut der Palästinenser gegen die Besatzer verständlich.
Dagegen steht das Leben von Israelis wie Rami, die die Siedlungspolitik zwar ebenfalls ablehnen, aber sich in ihrem guten Leben eingerichtet haben und versuchen, die Situation der Palästinenser zu verdrängen. Das erkaufen sie mit dem ständigen Gefühl der Unsicherheit, dass ein Anschlag auch sie treffen könnte. Rami wird erst durch den Tod der Tochter aus dieser Haltung herausgerissen.
McCann ist es wichtig, Verzweiflung und Leid als Alltag vieler Familien auf beiden Seiten darzustellen. Erst der gegenseitige Austausch führt zum Engagement in einer Friedenbewegung, die sich gegen jede Form von Gewalt ausspricht und für Friedensgespräche einsetzt. Das wiederum wird auf beiden Seiten von den eigenen Landsleuten mit Misstrauen beäugt. Rami wie Bassam müssen Hassnachrichten, Drohungen und Ausgrenzungen ertragen. All das erschüttert sie nicht in ihrem aus dem Schmerz geborenen Drang, ihre Geschichte zu erzählen, für Verständigung und Frieden zu werben, auf internationalen Konferenzen, in kleinen Zusammenkünften, vor Touristen im Heiligen Land.
McCann komponiert das Buch um die zentralen Erzählungen Ramis und Bassams auf einer Veranstaltung in einem alten christlichen Kloster in der Nähe von Bethlehem. Die Kapitel- bzw. Abschnittszählung ist aufsteigend bis 500 bis zu Ramis Erzählung und beginnt absteigend von 500 mit Bassams Erzählung. Ein kurzer Abschnitt zwischen den beiden Zählungen heißt 1001, ein Verweis auf die Erzählungen von Tausendundeine Nacht, die ebenfalls Erzählungen gegen Gewalt und Tod sind, „eine List, um im Angesicht des Todes zu überleben“. Das Zusammentreffen der drei Religionen an diesem Ort erinnert an Lessings Nathan und dessen Forderung nach Toleranz, Menschlichkeit und Versöhnung.
Die Auseinandersetzung mit dem Schmerz und mit den Ursachen für Hass und Gewalt ist Schwerpunkt im ersten Teil des Romans. Rami und Bassam müssen alle Tiefen des Schmerzes durchlaufen, um zu ihrer unermüdlichen Friedensarbeit aufbrechen zu können. Die zu Anfang unmöglich scheinende Freundschaft ist Zeichen der Hoffnung auf die große Versöhnung.
Der zweite Teil summiert mit größtmöglicher emotionaler Distanz das Unrecht, das diese Region von der kolonialen Vergangenheit bis in die Gegenwart prägt, verweist aber ebenso auf die Leiden des jüdischen Volks im Holocaust. Dennoch steht am Ende mit den Figuren von Rami und Bassam die Hoffnung auf Versöhnung, Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts, Hoffnung auf eine Zukunft, in der Palästinenser und Israelis in Freiheit und Gleichberechtigung miteinander oder nebeneinander leben können. Diese Hoffnung treibt Rami und Bassam in ihrem Kampf für Frieden an.
Dafür nutzt McCann das Bild des Vogelflug, der den Roman wie eine Klammer umfasst. Millionen Vögel ziehen über dieses alte Kulturland, bedroht von Steinschleudern und Vogelfängern. Dennoch kehren sie immer wieder zurück, im Flug in der V-Form, die wechselnde Führer braucht, in deren Windschatten und Auftrieb die anderen mitfliegen.
Was dieses Buch über die Geschichte von Rami und Bassam hinaus auszeichnet, sind die vielen Episoden und Verweise auf die kulturelle Bedeutung der Region, auch für die westliche Welt, sind die Verweise auf historische Zusammenhänge und Ereignisse in der jüngeren Vergangenheit, die immer wieder die Brisanz des palästinensisch-israelischen Konflikts und die Notwendigkeit eines Friedensprozesses aufzeigen.
Die Lektüre dieses Buches lässt die Leserin mittrauern, gleichzeitig lässt sie ein umfassendes Bild der Region zwischen dem See Genezareth und dem Toten Meer entstehen, insbesondere was die Lebensformen, die Traditionen und die Nöte der palästinensischen Bevölkerung anbetrifft.
Um die zahlreichen Bezüge zu Philosophie, Kunst, Geschichte und Politik ganz zu erfassen, müsste man das Buch eigentlich gleich noch einmal lesen.
Insgesamt ein wichtiges und äußerst lesenswertes Buch, das allerdings nicht leicht zu verkraften ist.
Das Buch ist im Rowohlt Verlag erschienen, hat 595 Seiten und kostet 25 Euro.
Elke Trost
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