Mit diesem Buch zeigt die bekannte Autorin durchaus Mut, denn sie beschreibt die öffentlich schon festgelegte Sicht auf den immanenten Rechtsextremismus in der brandenburgischen Provinz aus einer ungewohnten und – für manche – nicht unbedingt hundertprozentig politisch korrekten Perspektive.
Die Mittdreißigerin Dora entflieht der Berliner Corona-Krise und vor allem ihrem apokalyptisch moralisierenden Lebensgefährten Robert in die brandenburgische Provinz. Über Monate hat sich Robert an den Möglichkeiten moralischer Aufrüstung geradezu berauscht und sie mit immer neuen Verhaltensmaßstäben überzogen, bis sie nach Auswegen suchte und ein altes Haus in einem hinteren brandenburgischen Dorf fand. Kurzentschlossen kauft sie es und steht kurz danach mit Koffer und Hund vor dem leeren, renovierungsbedürftigen Haus.
Nach geradezu puristischen Einrichtungsaktivitäten lernt sie den schon äußerlich grobschlächtigen Nachbarn kennen, als der ihr an der Mauer droht, ihren Hund plattzutreten, wenn er noch einmal in seine Kartoffeln gehe. Dass er sich obendrein als der „Dorfnazi“ vorstellt, erhöht ihre Sympathie für ihn nicht gerade. Doch seine etwa zehnjährige Tochter, die etwas verloren auf dem Grundstück herumstreift, findet sofort in Doras Hund einen Freund und der in ihr eine Freundin. So ergeben sich einige zwangsläufige Kontakte, doch Doras Skepsis steigt noch, als sie von einer Frau aus dem Umfeld des Dorfes erfährt, dass der Nachbar wegen rechtsextremer Tätlichkeiten bereits im Knast gesessen habe und nur auf Bewährung frei sei. Dazu passt natürlich ein nachbarlicher Bierabend mit einigen Gleichgesinnten, bei denen die Gruppe das „Horst Wessel“-Lied gröhlt.
Bis dahin läuft scheinbar alles auf die Entlarvung der rechtsextremen ostdeutschen Provinz aus der aufgeklärten Sicht einer Berliner Gutgesinnten hinaus. Doch dann ändern sich die Dinge schleichend aber stetig. Der maulfaule Nachbar stellt ungefragt Möbel in Doras Haus oder fährt sie in seinem Pickup zum nächsten Einkaufszentrum. Mit seiner kleinen Tochter verkehrt der allein erziehende Vater auf rauhe aber herzliche Weise. Für Dora passt die rechtsextreme, fremdenfeindliche Einstellung des Nachbarn immer weniger zu seinem eigentlichen Wesen. Julie Zeh erliegt jedoch nicht der Versuchung, die politische Seite ihres Protagonisten durch menschliche Eigenschaften zu relativieren oder gar zu marginalisieren. Dora, ihre weibliche Hauptfigur, ist immer wieder konfrontiert mit heftigen Ausbrüchen ihres Nachbarn, vor allem unter Alkoholeinfluss, und kämpft geradezu tapfer gegen die Versuchung zu großen Verständnisses.
In Rahmen dieser außergewöhnlichen Zweierbeziehung skizziert Julie Zeh auch einen Teil der Dorfbevölkerung. Da sind die beiden schwulen Blumenhändler mit ihren kontrastierenden Persönlichkeiten, da ist der „Hans-Dampf-in-allen-Gassen“, hilfsbereit und immer zu einem Witz aufgelegt, und da ist die alleinerziehende Frau mit bewegter Vergangenheit und einem kargen Leben. Diese Figuren werden nur soweit detaillierter gezeichnet, wie es die Handlung erfordert, aber Julie Zeh gelingt dabei eine durchaus realistische und nie herablassende Charakterisierung der Dorfbewohner.
Die innere Zerrissenheit Doras spitzt sich bei einem abendlichen Grillen im Nachbargarten zu, als ihr der Kontrast zwischen der fast schon familiären Atmosphäre und den unverblümt drastischen Bemerkungen des Nachbarns zur politischen Lage überdeutlich zum Bewusstsein kommt. Doch ihr latenter Beschluss, trotz der Zuneigung zu dem kleinen Mädchen den Kontakt endgültig zu kappen, wird gegenstandslos, als der Nachbar fast vor ihren Augen mit dem Auto in einen Graben fährt, ohne alkoholisiert zu sein. Erschrocken schaltet sie ihren Vater ein, Chefarzt einer Klinik und Hirnspezialist, und erfährt von ihm die eindeutige Diagnose: schnell wachsender Gehirntumor mit geringer Restlebenszeit von Monaten wenn nicht Wochen. In diesem Augenblick sieht Dora ihren Nachbarn nur noch als „Menschen“ und nicht mehr als „Dorfnazi“. Gegen all ihre politische Überzeugungen wird sie binnen kürzestem Zeit zu seiner Krankenschwester, im nicht-erotischen Sinne zu seiner Ehefrau und zur Mutter des kleinen Mädchens. Ihre Probleme sind nicht mehr die der Welt wie Corona oder Klima, sondern die im nachbarlichen Hause.
Wir wollen das Ende hier nicht verraten, um die Leser dieser Zeilen zur eigenen Lektüre bzw. Anhörung dieses Romans zu motivieren. Julie Zeh hat hier ein so aktuelles wie brisantes Thema aufgegriffen und es mit einigem Mut gegen den Strich gebürstet. Puristische Moralkreise werden ihr das vielleicht übelnehmen, aber sie sieht in erster Linie den Menschen, wie verbohrt er auch sein mag. Es gibt zu jedem Fall eine individuelle Geschichte, die zwar nicht alles entschuldigt aber vieles erklärt.
Dabei gelingt ihr mit wenigen Strichen auch eine Skizze der anderen Seite der Gesellschaft, für die Doras selbstsicherer und allwissender Vater sowie ihre restliche Familie stehen. Doch auch sie sind nicht als Klischee der „herrschenden Schicht“ dargestellt, sondern – eben – als Menschen.
Anna Schudt liest den Roman mit viel Gespür für Doras langsam zunehmende innere Zerrissenheit und Reifung und verleiht der Geschichte damit eine bis zum Schluss anhaltende Spannung.
Das Buch ist im Hörverlag erschienen, umfasst eine mp3-CD mit einer Gesamtlaufzeit von 10 Stunden und 11 Minuten und kostet 12,90 Euro.
Frank Raudszus
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