Lola Randl, Jahrgang 1980, stammt selbst aus Berlin und arbeitete dort in der Filmbranche. Dann zog sie samt Mann und Kindern in die tiefste Uckermark, um sich dort der Gartenarbeit zu widmen. Das Buch schildert das Landleben und die Menschen, die sie dabei täglich trifft. Die wichtigsten Personen dieses hellsichtigen Gesellschaftsbildes sind neben der Ich-Erzählerin, die sich dabei beruflich nicht zu erkennen gibt, ihr Mann und ihre Kinder sowie das ältere Ehepaar Irmi und Herrmann, die als einzige „Ur-Einwohner“ des Dorf ein „authentisches“ weil natürliches Landleben führen. Dann ist da noch die „Nachbarin“, die hin und wieder die Kinder nimmt, aber nicht weiter eingeordnet wird, und die anderen Dorfbewohner sind eigentlich nur aus der „großen Stadt“ – Berlin liegt rund hundert Kilometer im Südwesten – zugereist.
Etwas ungewohnt ist die frühe Erwähnung des „Liebhabers“, den man als Leser zuerst für einen gleich gesinnten Gartenliebhaber hält. Aber nein, er erfüllt einmal in der Woche, am „Liebhabertag“, die Aufgaben, die der klassische Liebhaber laut einschlägiger Literatur immer schon zu erfüllen hatte. Wie der angesehene Bürger zu Kaisers Zeiten eine Mätresse unterhielt, hält sich die Ich-Erzählerin – die Autorin?? – einen Liebhaber, von dem das ganze Dorf und natürlich auch „der“ Mann, wie sie ihren Mann nennt, weiß. Ob diese Konstellation das „coming out“ einer echten „ménage à trois“ darstellt oder nur eine ironische Würzung der ansonsten vielleicht zu biederen Geschichte, sei dahingestellt. Doch die Ich-Erzählerin gleitet nie in eine deftige erotische Detailschilderung ab, sondern belässt es bei lakonischen, wenn auch deutlichen Anmerkungen.
Überhaupt gilt ihr Hauptaugenmerk dem Garten, und hier kommen die Pflanzenliebhaber und -experten auf ihre Kosten. Aber hier findet die großstädtische Ich-Erzählerin ihre Meisterin – ihre Mutter. Die kennt sich in der Bodenbeschaffenheit und der Pflanzenfolge sehr gut aus und betrachtet das Experiment ihrer urbanen Tochter mit gehöriger Skepsis und deutlicher Kritik am sachlichen Detail. Die mentale Grundierung der Mutter wird – vor allem angesichts der „Liebhaber“-Affäre – deutlich, als sie den Begriff „Samen“ kategorisch ablehnt und stattdessen von Saatgut spricht.
Was der eigene Mann und der Liebhaber beruflich machen, führt die Autorin nicht weiter aus. Entweder leben sie vom Ersparten oder von „Luft und Liebe“ – daher der Liebhaber. Aber das spielt auch keine Rolle, sondern es geht hier hauptsächlich um den Alltag und das Selbstverständnis der Dorfbewohner. Neben all den Pflanzendetails lernen die Leser die durchaus heterogene Bevölkerung des Dorfs kennen. Irmi und Herrmann stehen dabei für die „Ureinwohner“, die sich jedoch nicht explizit als solche fühlen, eben weil sie es sind. Sie leben in ihrem Kosmos der Jahreszeiten und der entsprechenden Fruchtfolgen und nutzen das ländliche Leben weitgehend zur Selbstversorgung, obwohl sie eher Nebenerwerbsrentner denn Landwirte sind. Aber man kennt sich halt auf dem Land aus und lebt danach.
Anders dagegen die „Zugereisten“, zu denen ja auch die Ich-Erzählerin gehört. Der Kommunikationsdesigner mit seiner berufskompatiblen Lebensgefährtin – Grafikdesignerin – lebt im „Home Office“ vor Corona-Zeiten auf dem Land, minimiert aber den Kontakt sowohl zur Urbevölkerung als auch zu den anderen Zugereisten, weil sie nicht sein fortgeschrittenes, geistig-moralisch optimiertes Lebensmodell verinnerlicht haben. An freien Tagen geht er mit extrem leichter Ausrüstung und meditativer Vorbereitung alleine auf nächtliche Entdeckungstour durch die Landschaft und pflegt sein ausgeprägt authentisches Selbstbild.
Dagegen sind die „Leute aus der Stadt“ Sucher nach Authentizität, die sie nur auf dem Lande zu finden glauben. Ohne Geld und ohne jegliche praktischen Kenntnisse des Landlebens suchen sie nach einfachen. sinnstiftenden Tätigkeiten, sind aber für nötige Arbeiten wie Dachreparaturen mangels Kenntnissen nicht einsetzbar. So zupfen sie zwischen Platten auf dem Gehweg Unkraut, dekorieren die Wohnungen ihrer Arbeitgeber mit allerlei Fundsachen aus der Natur und fühlen sich glücklich. In ihren obligatorischen Rücksäcken tragen sie als mehr oder minder einziges Gepäck ihre neuesten Smartphones, mit denen sie von Zeit zu Zeit Authentizitäts-Selfies aufnehmen, um sie ihren rückständigen Freunden in der großen Stadt zu schicken.
Lola Randl nimmt vor allem diese aufgesetzte Authentizitätssuche der Städter und deren (Sehn-)Sucht nach der distinguierenden Differenz aufs Korn, ohne sie dabei jedoch zu denunzieren. Ihr Stil ist bewusst einfach gehalten – kurze Sätze, keine distanzierten Reflexionen – und vermittelt vordergründig eine gewisse Naivität, als nehme sie alles, was sie sieht, ernst. Doch gerade diese gespielte Naivität entpuppt sich zunehmend als Ironie, die sich nicht nur auf die im Landleben Sinn suchenden Städter, sondern auch auf sich selbst, ihren Mann und ihren Liebhaber bezieht. Die Männer denken gerne über die großen, weltbewegenden Dinge vom Urknall bis zum Ende des Universums nach, während sie die richtige Kombination von Pflanzen in einem Beet – ohne ihre Mutter – nicht auf die Reihe bekommt.
Die einzigen, die der sanfte Bannstrahl der Ironie nicht trifft, sind Irmi und Herrmann, anfangs. weil sie „echt“ sind, und später, weil Herrmann ein Pflegefall wird. Vor diesem tatsächlich in Einklang mit Dorf und Land lebendem Paar, das nicht zufällig an Philemon und Baucis erinnert, zieht Lola Randl gar nicht so im Stillen den Hut.
Sandra Hüller ist eine ideale Besetzung für die Rolle der Sprecherin. Ihr lakonischer, sanft ironisch eingefärbter Tonfall gibt den Grundtenor dieses Buches prägnant wieder und sorgt für viel Humor ohne jegliche Bissigkeit. Letztlich spricht aus diesem Gemeinschaftswerk von Autorin und Sprecherin eine große Liebe zum (Land-)Leben und zu den dort lebenden Menschen, auch wenn sie sich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens bisweilen im Kreise drehen.
Das Hörbuch ist im Verlag Speak Low erschienen, umfasst eine mp3-CD mit einer Laufzeit von 303 Minuten und kostet 13,45 Euro.
Frank Raudszus
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