Seit einigen Jahren versucht eine linke Identitätsbewegung, die alleinige Deutungshoheit über Rassismus, identitäre Aus- und Abgrenzung sowie die entsprechenden Diskurse bis hin zum Rede- und Schreibverbot zu übernehmen. In der liberalen Presse – vor allem in Deutschland – wurde das bis vor kurzem eher als kuriose Übertreibung in den USA betrachtet, und erst mit dem Übergreifen auf Frankreich ist diese Bewegung in den Blickpunkt ernsthafter Essays geraten.
Die Französin Caroline Fourest ist selbst bekennende Lesbe und Linke und kämpft seit Jahren für einen universalen Antirassismus, dessen Hauptwaffe der rationale Diskurs auf Augenhöhe mit (fast) allen Gegnern bis weit in die rechte Szene ist. Doch die Entwicklung der letzten Jahre in Nordamerika, Großbritannien und nun auch in Frankreich hat sie alle Bedenken hinsichtlich einer eventuellen „Illoyalität“ gegenüber der Linken hintan stellen lassen. Mit diesem Buch bezieht sie eine klare Position gegen die aggressive Bewegung der identitären Linken.
Die Stärke dieses Buches ist die schonungslose Offenheit und der engagierte Protest gegen jegliche Intoleranz und gewaltsame Ausgrenzung der politischen oder ideologischen Gegner, sei diese Gewalt psychisch oder gar körperlich. Beides hat sie entweder selbst erlebt oder weiß es aus öffentlichen Quellen. Dabei sind die identitären Ideologen ihre besten Zeugen, denn sie stehen offen zu ihrer rhetorischen oder tätlichen Aggression, weil sie sie für gerechtfertigt oder gar für notwendig halten. Fourest muss also nicht um die Feststellung der Sachverhalte kämpfen, sondern von vornherein um ihre zumindest intellektuelle Existenz und die ihrer eher linksliberalen Genossen.
Fourest ist auch eine der ersten „mutigen“ Linken, die es wagen, offen gegen ihre identitären „Glaubensgenossen“ vorzugehen, denn in vielen Fällen, vor allem im universitären Umfeld, haben die Lehrkräfte weltweit – auch in Deutschland, wo man auch schon vor identitären Linken einknickte – Angst zu widersprechen, weil sie dann als reaktionär oder gar faschistisch gebrandmarkt werden könnten. Dabei spielen die sozialen Netze natürlich eine wesentliche Rolle, denn erst über sie können kleine Gruppen fanatischer Identitätslinker in kürzester Zeit weltweite Empörungswellen auslösen.
Das Buch besteht im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung von Auftritten totalitär agierender Minderheiten, die rationale Argumente durch überspitzte Moralisierung, eigenmächtige Umdeutungen und lautstarke Aggressivität ersetzen. Dabei spielt die Rolle des „Opfers“ eine zentrale Rolle. Vor nicht allzu langer Zeit noch ein Schimpfwort unter Jugendlichen für vermeintliche Versager, ist es in kürzester Zeit zu einem moralischen Adelstitel mutiert. Die von Rassismus oder anderer Ausgrenzung Betroffenen treten jetzt mit der Forderung alleiniger Deutungshoheit über alle sie betreffenden Angelegenheiten auf. Das klingt im ersten Augenblick vernünftig, kippt aber mit dem Ausschluss aller nicht Betroffenen – das sind natürlich immer die Täter – vom Diskurs ins totalitäre Gegenteil um. Als die anfängliche Denunziation des „Blackfacings“ im Film und auf dem Theater als Beleidigung sofort viele Befürworter fand, steigerten die identitären Ideologen die Forderung erst zu einem Verbot aller Darstellungen von Minderheiten durch andere als deren Mitglieder, um anschließend mit den „strukturellen“ Rassismus den Weißen einen angeborenen und individuell nicht vermeidbaren Rassismus zuzuschreiben.
Ähnliches berichtet Fourest von anderen Minderheiten, die offensichtlich schnell auf den Geschmack des Opferdaseins kamen. Homosexuelle beider Geschlechter, Trans- und Queersexuelle fallen ebenso darunter Muslims (weltweit nicht gerade eine Minderheit) oder andere, seltenere Ethnien. Dabei stellt Fourest schnell fest, dass sich die Minderheiten gegenseitig um den größten Opferstatus bekriegen, dass die Leitwölfe dieser Bewegungen jedoch die internen Widersprüche – etwa Islam und Homosexualität – vom Tisch wischen und die weißen Anglo-Europäer als die einzigen Schuldigen weil geborenen Privilegierten und Unterdrücker betrachten.
Besonders stark ist diese Bewegung an nordamerikanischen Universitäten – auch in Kanada! – vertreten, wo vor allem Dozenten die Studenten erst zu diesen identitären Aufständen motiviert, ja: angestachelt haben. Die Zeitenwende um 1990 zog der internationalen Linken den Boden unter den Füßen weg, doch nach einigen Jahren der Schockstarre entdeckten sie die Minderheiten – welche auch immer – als neues Schlachtfeld für eine internationale Revolution. Die moralische Hochstilisierung der echten und vermeintlichen Opfer und die geradezu pedantische Suche nach potentiellen Ausgrenzungen und Repressionen führte zu einer abstrusen Entwicklung, die letztlich jedwede Übernahme einer anderen Kultur – sei es Musik, Literatur oder Mode – als gewaltsame Aneignung brandmarkt. Wir wollen an dieser Stelle nicht einzelne Fälle aufführen sondern das der Lektüre interessierter Leser überlassen. Als ein Beispiel sei nur das vietnamesische Essen in einer amerikanischen Universitätsmensa genannt, das eine Studentin vietnamesischer Herkunft wegen angeblich unauthentischer Zutaten als Beleidigung empfand. Dieser Vorfall mündete direkt in eine universitätsweite Revolte und eine öffentlichen Entschuldigung der Cateringfirma.
In anderen Universitäten – in den USA, Kanada und in Frankreich – wurden Dozenten, die in entsprechenden Diskursen Gegenargumente vortrugen, niedergebrüllt und persönlich bedroht. Viele Dozenten und Universitätsleitungen knickten aus Angst um ihre persönliche wirtschaftliche Existenz ein und ließen sich beliebig öffentlich von den Studenten demütigen.
Was die Darstellung der Situation betrifft, leistet Caroline Fourest mit diesem Buch ganze Arbeit. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, bezeichnet Terror offen als solchen und stellt sich dem identitären Mob mit offenem Visier entgegen. Die Schwäche des Buches liegt jedoch in der mangelnden Analyse. Zwar verweist sie auf den als narzisstische Kränkung empfundenen Bedeutungsverlust der Linken und das „Ersatzfeld“ der Minderheiten, doch das sind kurze Feststellungen ohne analytische Grundlagen. Das ungehinderte Einfangen der jungen Studenten erklärt sie mit der Feststellung, dass man diese ja auch zu egozentrischer Empfindlichkeit erzogen habe. Ob sie damit Eltern, Lehrer oder Institutionen oder gar die Medien meint, bleibt offen. Denn die – linken – Dozenten haben die Bewegung zwar in Gang gesetzt, aber zum Verführen gehört neben dem Verführer auch stets der Verführte. Natürlich erfordert es wissenschaftlich Detailarbeit, um die Gründe für diese Entwicklung zu erforschen und damit auch Erfolg versprechende Gegenmaßnahmen vorschlagen zu können. Da hätte man von der Autorin etwas mehr als nur – durchaus berechtigte! – Empörung erwartet.
Natürlich weist sie auch darauf hin, dass diese „intersektionelle“ Abgrenzung aller Minderheiten mit alleiniger Deutungshoheit die (extreme) Rechte in allen betroffenen Ländern stärkt – siehe Trump -, doch klingt diese berechtigte Angst bisweilen ein wenig danach, dass es ihr nur um die Zukunft der Linken, nicht aber um ein friedliches Miteinander aller Bevölkerungsgruppen geht. Zwar betont sie immer wieder den universalen, diskursiven Ansatz der Linken, für die sie steht, doch wirft sie zumindest unterschwellig auch die gemäßigten Konservativen in den Topf der rechten Nutznießer. Bisweilen lautet der beschwörende Untertext an die identitäre Linke, sich doch zu mäßigen, um der universalen Linken nicht zu schaden. Besser wäre es gewesen, sie hätte eindeutig Stellung gegen diese Ideologen im Sinne einer alle Bevölkerungsgruppen einschließenden Demokratie ergriffen. Aber in dieser aufgeheizten Atmosphäre kann man nicht alles einfordern und muss dankbar sein, dass endlich eine Intellektuelle vehement gegen diese gefährliche Entwicklung protestiert.
Das Buch ist in der Edition Tiamat erschienen, umfasst 144 Seiten und kostet 18 Euro.
Frank Raudszus
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