Die von Anna Bers herausgegebene Anthologie „Frauen Lyrik“ umfasst Gedichte von Frauen, Gedichte über Frauen und Gedichte mit einer weiblichen Stimme. Ein senkrechter Strich zwischen „Frauen“ und „Lyrik“ signalisiert die Vielfalt des Themas „Frau“ in der Lyrik sowie die Vielfalt von Autorinnen und Autoren, die in diesem Band vereinigt sind.
Anna Bers lässt unbekannte Lyrikerinnen ebenso zu Worte kommen wie die wenigen, die uns allen bekannt sind. Damit macht sie das oft unterschätzte Schaffen von Lyrikerinnen sichtbar. Das ist ihr zentrales Anliegen.
In einem Vorwort gibt sie eine „Art Gebrauchsanweisung“ zum bestmöglichen Umgang mit der Anthologie.
Die Gedichte sind ohne Rücksicht auf Thema, Bekanntheitsgrad oder Relevanz chronologisch vom Mittelalter bis zur Gegenwart angeordnet. Es beginnt mit einem althochdeutschen Merseburger Zauberspruch aus der Zeit zwischen dem 3. und 9. Jahrhundert. Das Entstehungsdatum ist in der Forschung umstritten, aber die Zaubersprüche gehören zu den frühesten Dokumenten in deutscher Sprache. Der hier abgedruckte Spruch drückt eine Hochachtung vor der gesellschaftlichen Rolle der Frau im frühen Mittelalter aus. Wenn das nicht erstaunlich ist!
Das letzte Gedicht ist ein Text von Barbara Köhler (geb. 1951), das seit 2018 an der Fassade der Berliner Alice-Salomon Hochschule steht. Dieses Gedicht ist voller Ambivalenz über das Weibliche „sie“.
Anna Bers versieht alle Text mit Hinweisen auf inhaltliche oder formale Bezüge zu anderen Gedichten, die in einer ausgeklügelten Punkt-Symbolik angezeigt werden. Diese Verweise deuten hin auf vier unterschiedliche Perspektiven der Gedichte: auf die Stellung eines Gedichts im literarischen Kanon, auf die Zuordnung zu einer literaturgeschichtlichen Epoche, auf den Zusammenhang mit dem Thema „Emanzipation“ und schließlich auf die Art der im Gedicht sprechenden weiblichen Stimme.
So kann die Leserin, der Leser eine „Tour“ durch den umfangreichen Band machen, ohne sich zu verirren. Die Angebote, Zusammenhänge herzustellen und Entwicklungen zu erkennen, machen das Gedichte-Lesen zu einem intellektuellen Abenteuer und einem großen Vergnügen mit vielen neuen Entdeckungen.
Am Ende gibt es sorgfältig gestaltete Biogramme zu den Autorinnen und Autoren, die Hilfe zur Einordnung und weiteren Lektüre geben.
Zwei klassische alphabetische Gesamtregister nach Titeln und Gedichtanfängen sowie nach Autorinnen und Autoren werden durch vier Teilregister ergänzt, jeweils alphabetisch geordnet nach kanonischen Texten von Frauen, nach literaturgeschichtlich exemplarischen Texten von Frauen, nach emanzipatorischen Texten von Frauen oder Männern, nach weiblichen Perspektiven in Texten. Das erleichtert die Suche unter bestimmten Gesichtspunkten und führt zu Lyrikerinnen, die man zuvor vielleicht noch gar nicht kannte.
Anna Bers` kluges Nachwort mit ausführlichem Anmerkungsteil untersucht den Anteil von Frauen im bekannten lyrischen Kanon, die Bewertung weiblicher Lyrik sowie die gesellschaftlichen Normierungen, die es Frauen in der Vergangenheit immer schwer gemacht haben, zu schreiben und gar zu veröffentlichen. Frauen sind nicht nur zahlenmäßig unterrepräsentiert, vielmehr unterliegen sie darüber hinaus einem männlich dominierten Bewertungsschema, das ihnen bis in die Gegenwart oft die Zuerkennung von Qualität versagt hat.
Mit ihrer Sammlung durchbricht Anna Bers solche Zuschreibungen, die aus männlicher Sicht erfolgt seien und sich immer noch an dem männlich dominierten Geniekult des 18. Jahrhunderts orientierten. Das Schöpferische werde dem Mann zugeordnet, das emotional Rezeptive der Frau.
Anna Bers` Anliegen ist es, mit dieser Sammlung Normierungen und Geschlechtsrollen-Zuschreibungen zu durchbrechen. Ein Kriterium für die Auswahl sind deshalb emanzipatorische Texte, die sowohl inhaltlich als auch formal nach neuem Ausdruck streben, sowie Texte, in denen Frauen eine Stimme gegeben wird, die über die traditionellen Rollen hinausführen. Das können durchaus auch Texte von Männern sein. In dieser Hinsicht ist die Anthologie ein Beitrag zu einer Korrektur der bisherigen Literaturgeschichtsschreibung. Auch die normierten Bewertungskriterien von Gedichten stellt sie zur Disposition. Rein ästhetisch-strukturalistische Kriterien entlarvt sie als ideologisch, da auf diese Weise Inhalte sekundär würden, „Verstöße“ gegen Formnormen sanktioniert würden. Damit werde Subversives und Rebellisches aussortiert, das eigentlich die Kraft von Literatur – und Lyrik im Besonderen – ist.
Der Blick auf Lyrik aus der Frauenperspektive eröffnet ganz neue Lesarten, auch grade von schon kanonisierten weiblichen Texten. Wer neugierig ist, lese dazu zum Beispiel das Gedicht „Am Turme“ von Annette von Droste-Hülshoff.
Wer Lust auf Lyrik hat, sollte dieses Buch immer griffbereit haben. Jedes „Schmökern“ wird zum Gewinn. Als Einstieg empfehle ich die Lektüre des Nachworts.
Das Buch ist im Reclam-Verlag erschienen, hat 879 Seiten (inklusive Nachwort und aller Register) und kostet 28 Euro.
Elke Trost
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