Wohl selten hat es um ein Gedicht solch einen Wirbel gegeben wie um das Gedicht „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman, das die junge Lyrikerin bei der Inaugurationsfeier von Joe Biden am 20. Januar 2021 selbst vorgetragen hat. Beeindruckend war, mit welchem Selbstbewusstsein und mit welcher Kraft sie das getan hat. Welch ein Signal an die zerstrittene amerikanische Gesellschaft, dass sich hier eine junge weibliche afroamerikanische Stimme erhob!
Der noch größere Wirbel aber ergab sich aus dem Übersetzungsproblem: Engagierte „Black Lives Matter“-Vertreter*innen protestierten lauthals gegen eine niederländische Übersetzerin, die nicht schwarz ist. Bei der Diskussion um die Frage der sogenannten „kulturellen Aneignung“ wurde die inhaltliche und ästhetische Qualität des Gedichts fast zur Nebensache.
Dem deutschen Verlag Hoffmann und Campe sei gedankt, dass er das Übersetzungsproblem mit einem gender- und race-konformen Team umschiffte.
Die deutsche Ausgabe zeichnet sich durch eine sehr sorgfältige Gestaltung aus. Das Bändchen stellt das englische Original und die deutsche Übersetzung unmittelbar gegenüber, in kleinere Abschnitte unterteilt, jeweils auf einer Doppelseite. Das erleichtert den Vergleich der beiden Fassungen und bewahrt vor zu flüchtigem Lesen. Schade nur, dass das begeisterte Vorwort von Oprah Winfrey nur in der Übersetzung erscheint.
Mit starkem Pathos, das sich zum Teil an die Sprache der Bibel anlehnt, beschwört Amanda Gorman den Neubeginn der amerikanischen Nation unter der neuen Führung. Sie spricht für alle Amerikaner, die dem amerikanischen Traum vertrauen. Dieser Traum ist ein Versprechen für die Zukunft. In ihr „We“ bezieht sie alle Amerikaner ein, Frauen und Männer, People of Colour und Weiße, Arme und Reiche, Alte und Junge. Ihnen allen macht sie Hoffnung, dass das Land wieder heilen kann nach der tiefen Spaltung.
Amerika ist für sie immer noch das Land der Hoffnung, „where a skinny Black girl, /Descended from slaves and raised by a single mother, / Can dream of becoming president, / Only to find herself reciting for one”. Amerika ist für sie immer noch das Land, in dem der Traum Wirklichkeit werden kann, in dem die Möglichkeiten unbegrenzt sind. Von diesem Optimismus ist das Gedicht getragen, das durchaus die Gräben der amerikanischen Gesellschaft beklagt, aber daraus zum Appell in die Zukunft führt: „So let us leave a country better than the one we were left. … We will raise this wounded world into a wondrous one.“ Gorman ruft alle Amerikaner auf, gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten. Sie endet mit dem wirkungsvollen „We“, das alles möglich macht, denn das Licht eines neuen Morgens sei da, „if only we`re brave enough to see it, / if only we`re brave enough to be it.“
Die Kraft des poetischen Ausdrucks gewinnt Amanda Gorman mit starken Bildern („the hill we climb“), mit Wortspielen, die Gegensätzliches verbinden („We lay down our arms / So that we can reach our arms out to one another“), mit Alliterationen, die Kontraste hervorheben (merge mercy with might, and might with right ), oder mit Zuspitzung dreier Verszeilen auf die bedeutungstragenden Begriffe „victorious“, „defeat“, „division“.
Hier nun beginnt die Schwierigkeit jeder literarischen Übersetzung, insbesondere der verdichteten Form der Lyrik. Die Bildlichkeit und die rhetorischen Figuren des Originals lassen sich nur in Glücksfällen in der Zielsprache nachbilden oder nachempfinden.
Dem Übersetzungsteam gelingt das an vielen Stellen, an anderen jedoch ergeben sie sich der Sperrigkeit der deutschen Sprache. Eine Zeile wie „We will rebuild, reconcile, and recover“ verliert ihre Eindringlichkeit in der deutschen Version: „Wir werden erneuern, einen, genesen“ drückt inhaltlich dasselbe aus, kann aber nicht dieselbe Kraft entwickeln wie die Alliteration des Originals. Ob es hier nicht eine stärkere Ausdrucksmöglichkeit im Deutschen gegeben hätte?
An anderer Stelle wird aus „Our people, diverse and dutiful“ im Deutschen „wir alle, so verschieden, so bewegt“, aus „We’ll emerge, battered but beautiful“ wird (wir alle) „werden wieder auferstehen, beschädigt, aber schön.“ Auch hier fehlt dem Team der Mut, den poetischen Klang im Deutschen nachzuempfinden.
Dem Übersetzungsteam gelingt es im Ganzen jedoch durchaus, den Ton und die inhaltlichen Bezüge ins Deutsche zu übertragen. An etlichen Stellen hätte man sich aber gewünscht, das Team hätte sich mehr von der wörtlichen Vorlage gelöst. Dann hätte Amanda Gormans Botschaft auch im Deutschen ihre Strahlkraft erhalten können.
Da stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es von der Hautfarbe der Übersetzerin bzw. des Übersetzers abhängt, wie gut sie bzw. er in das Gedicht eintauchen kann, wie sie / er die innere Struktur erkennt. Ein wichtiger Aspekt beim Übersetzen ist darüber hinaus, dass man die Bezüge zu anderen Texten erkennt und dem in der Übersetzung Rechnung trägt. Um Gormans Anspielungen auf die großen amerikanischen Mythen zu verstehen, muss man die „Declaration of Independence“ von 1776 kennen, in der es heißt „We hold these truths to be self-evident that all men are created equal“. Man sollte Martin Luther King’s berühmte Rede vom Marsch auf Washington im Jahre 1963 kennen: „I have a dream that one day on the red hills of Georgia, the sons of former slaves and the sons of former slave owners will be able to sit down together at the table of brotherhood.” Besonders der Bezug zu dem Optimismus, den Obama in seinen Inaugurationsreden von 2009 und 2013 vermittelt, ist bei Amanda Gorman nicht zu übersehen.
Solche Hintergründe kann man im Team erörtern, aber sich auf die Sprache, den Ton und die Poesie eines Textes einzulassen, bedarf der Vertiefung. Ob das im Team geht, wage ich zu bezweifeln.
Dem Übersetzungsteam gebührt Dank für die zahlreichen Anmerkungen, die die historischen Bezüge sichtbar machen. Dadurch wird Gormans Gedicht zu mehr als einer pathetischen Lobpreisung der Stärke Amerikas, es stellt vielmehr das Versprechen heraus, dem Amerika aus seiner Vergangenheit verpflichtet ist, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehören.
Amanda Gormans Gedicht ist ein Gedicht für alle Amerikaner, eigentlich sogar für alle Menschen, die sie in ihrem großen „We“ umarmt. Warum soll dann nicht auch jede oder jeder, die / der sich unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht dazu in der Lage fühlt, dieses Gedicht übersetzen dürfen? Hoffen wir, dass sich die überhitzte Debatte wieder beruhigt.
Zu dem Übersetzungsteam des Verlages Hoffmann und Campe gehörten drei Frauen:
die Übersetzerin Uda Strätling, die u.a. in den USA, in Osteuropa und Afrika aufgewachsen ist;
die Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker, die als Autorin und Moderatorin für den Hessischen Rundfunk und für die Frankfurter Rundschau arbeitet, sie ist u.a. Mitglied der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ (ISD);
die Politikwissenschaftlerin und Autorin Kübra Gümüşay, die in ihrem Buch „Sprache und Sein“ zeigt, wie Sprache uns in unserem Denken bestimmt und wie sie die Politik beeinflusst.
Das Team hat insgesamt gute Arbeit geleistet. Hinzu kommt die liebevolle Gestaltung der Ausgabe durch den Verlag. Es lohnt sich, sich in Amanda Gormans Appell zu vertiefen.
Das Buch ist im Hoffman und Campe Verlag erschienen. Es hat 63 Seiten und kostet 10 Euro.
Elke Trost
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