Der Journalist Alexander Osang wuchs in der DDR auf und erlebte als Endzwanziger den Mauerfall und die Wende. Nach verschiedenen journalistischen Stationen ging er für den SPIEGEL nach New York, der Stadt seiner vermeintlich unerfüllbaren Jugendträume. Ende des zweiten Jahrzehnts sollte er für ein SPIEGEL-Sonderheft das Portrait eines typischen Ostdeutschen dreißig Jahr nach der Wende schreiben. Diesen Prozess beschreibt er in einer fast atemlos zu nennenden Reportage, die zeigt, wie schwierig, in der Praxis letztlich unmöglich diese Aufgabe ist. Im Zuge des Schreibprozesses, der mit seinem Fortschreiten sein eigenes Scheitern manifestiert, schafft er genau das, was unmöglich scheint. Es gibt den typischen Ostdeutschen nicht, er ist eine Fiktion der kategoriesüchtigen Medien. Als der SPIEGEL schließlich dieses Portrait auf Osangs Anraten nicht veröffentlicht, verdichtet dieser sein „Scheitern“ in dem vorliegenden Buch und realisiert damit das ursprüngliche Vorhaben. Das ist die literarisch-historische Ironie der Geschichte.
Osang berichtet als er selbst in Ich-Form von einer Reise, die er mit seinem alten Freund Uwe von Helsinki nach St. Petersburg unternimmt. Dahinter steckt keine Metapher, sondern es ist die pure Dokumentation. Auf der Fähre sitzen sie zusammen an der Bar und reden von alten Zeiten. Uwe ist bekennender Schwuler und wohnt in New York in einem eigenen Haus. Er hatte wechselnde Beziehung, anfangs, in der DDR, sogar zu Frauen, und blickt auf eine illustre Ahnenkette von Schauspielern und überzeugten Kommunisten zurück. Doch er ist nicht zu fassen, lässt sich nicht zu Lebensbeichten oder zum Herzausschütten verleiten. Mal scheint er selbstbewusst und gar -zufrieden, dann wieder driftet er ab in introvertiertes Schweigen. Auch eindeutiger politischer Meinungen enthält er sich.
Was dem Autor am meisten auffällt und ihm auch zu schaffen macht, ist Uwe lakonischer Sinn fürs Dramatische. Welche Namen von mehr und minder prominenten Bekannten Osang auch immer einwirft – Uwe kennt deren dramatische oder gar zerrissene Lebensläufe. Er selbst scheint wie das Auge eines Hurrikans inmitten eines Chaos gescheiterter, umgeworfener oder nur aufregender Biographien zu stehen. Den Leser beschleicht mehr als ein Mal der Verdacht, dass Uwe nur ein großer Geschichtenerzähler ist, der sich all die dramatischen Verhältnisse im Moment ausdenkt, um im Mittelpunkt zu stehen. Auch Osang scheint das eine Weile zu vermuten, äußert es aber nicht als konkreten Verdacht, weil einerseits einige Belege dafür sprechen und er andererseits keine Gegenbeweise hat. Letztlich hat er auch nicht die Absicht, Uwe als einen zweiten Münchhausen zu entlarven, sondern will ihn nur als archetypischen Ostdeutschen beschreiben, der er aber nicht ist.
Im Rahmen der Rückschau auf Uwes Leben taucht auch Osang immer wieder in seine eigene Vergangenheit ein und lässt seine Familie Revue passieren, deren Schicksal er so episch in „Elena Silber“ beschrieben hat. Während er noch glaubt, Uwe als in irgend einer Weise typischen Ostdeutschen zu fassen, erkennt und beschreibt er sich selbst als solchen, wenn auch ambivalenten. In seiner eigenen Mehrdeutigkeit, die sich nicht mit Kategorien einhegen lässt, ist er ein typischer Ostdeutscher, der auf dem schmalen Grat zwischen einer als falsch erkannten DDR-Nostalgie und einer utopischen West-Verklärung balanciert.
Der Titel, der auf die berühmten „weißen Nächte“ von St. Petersburg verweist, lässt sich auch als Metapher auf seine journalistische Aufgabe verstehen. Er steht immer kurz vor der Erkenntnis des ostdeutschen Wesens, sei es in Uwes oder in seiner eigenen Person, bekommt es aber nie wirklich zu fassen. Es ist eben nur „fast hell“. Auf der anderen Seite raubt die fast durchgehende Helligkeit dem normalen Mitteleuropäer nicht nur die Ruhe sondern auch die Konzentrationsfähigkeit. Auch hier lockt die metaphorische Versuchung, denn die scheinbare Helligkeit in Uwes Leben – er leugnet und verheimlicht nichts – führt nicht zu einer abschließenden Erkenntnis, nach der man das Buch zuschlagen könnte. Letztlich tritt hier die Erkenntnis zutage, dass die journalistische Suche nach einer objektiven Wahrheit nicht dem wahren Leben und dessen geradezu angeborenen Ambiguität entspricht.
Alexander Osang bedient sich hier bewusst eines Reporter-Stils, der hautnah an der Gegenwart haftet und Rückblenden nur als Erläuterungen zulässt. Kurze Sätze ohne semantische Verzweigungen oder stilistische Abschweifungen sorgen für eine fast gehetzte Atmosphäre, die einerseits dem journalistischen Termindruck und andererseits den Drang zum Kern und Wesen einer Geschichte entspringt. Doch dieser Stil ist nicht ein Markenzeichen des Autors sondern „nur“ der Geschichte, denn Osang kennt sich auch im epischen Stil aus, wie man dem bereits erwähnten Roman über Elena Silber entnehmen kann.
In einem abschließenden Epilog lässt Osang seine „Portrait eines Ostdeutschen“ noch einmal aus dem zeitlichen Abstand von gut einem Jahr Revue passieren und klärt dabei einige Details, die sich in der Echtzeitphase dieses Buches aus praktischen und dokumentarischen Gründen nicht klären ließen. Will sagen, so manches Detail aus Uwes Leben wurde ihm erst später, nach eigener Recherche und einigem Nachdenken klar. Das spricht jedoch nicht gegen die Geschichte oder gegen den Epilog. Es ist einfach so!
Das Buch ist im Aufbau-Verlag erschienen, umfasst 225 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
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