Dieses Buch ist ein absolutes Muss für alle, die sich mit Identität, Genderproblematik und Rassismus auseinandersetzen wollen.
Die britische Autorin Bernadine Evaristo erzählt in ihrem Buch „Mädchen, Frau etc.“ die Lebensgeschichten von zwölf Frauen, die als „People of Colour“ in Großbritannien leben. Dabei fasst sie jeweils drei Frauen in einer Gruppe zusammen, die familiär oder freundschaftlich miteinander verbunden sind. Im Mittelpunkt steht jeweils die lebensgeschichtliche Verbindung von Müttern, Töchtern und Großmüttern.
Die Gruppen sind durch mehr oder weniger lose Verbindungen miteinander verknüpft.
Alle Familien leben seit Generationen in Großbritannien, das ihnen bei ihrer Ankunft aus Afrika, aus der Karibik, aus den USA das Leben als Farbige schwer gemacht hat. Aus den unterschiedlichsten Gründen kamen die Urgroßmütter oder Urgroßväter nach Großbritannien, meist aus Not und Armut.
Evaristo schildert mit großer Eindringlichkeit und Einfühlsamkeit die Stärke dieser ersten Generationen, gerade der Frauen, die für ihre Kinder ein besseres Leben wollen. Dafür nehmen sie Demütigung und schwere Arbeit auf sich, bereit, sich durchzukämpfen.
Die jüngste Generation der Enkelinnen und Urenkelinnen schafft es mit Bildung, Ehrgeiz und Ausdauer, in die Mittelschicht aufzusteigen. Insofern sind alle Erzählungen letzten Endes Erfolgsgeschichten.
Auch die erfolgreichen Töchter kennen jedoch den verdeckten Rassismus, etwa wenn die erfolgreiche Bankerin Carole bei einer Konferenz für das Serviermädchen gehalten wird oder wenn die engagierte Lehrerin Shirley keine Chance sieht, sich an einer Privatschule zu bewerben, um dem stressigen Alltag an einer Brennpunktschule zu entkommen.
Evaristo geht es bei ihren Figuren um die Frage der Identität als Menschen mit dunkler Hautfarbe, d.h. darum, wie sie den sozialen Aufstieg mit ihrer Rolle als Farbige in der britischen Gesellschaft verknüpfen.
Das zeigt sie am Wandel der Einstellungen von Generation zu Generation. Waren die ersten Generationen noch darauf aus, sich möglichst gut anzupassen, gibt es in der Enkelinnen-Generation eine neue Bewegung, gerade die eigene Identität als Farbige mit einem bestimmten Hintergrund wieder offensiv anzunehmen, gleichzeitig aber in dieser Gesellschaft zu leben. Bestimmt werden sie von der Vision, dass eines Tages die Hautfarbe keinerlei Rolle mehr spielen sollte.
Die Frage der Identität ist jedoch nicht auf die der Hautfarbe beschränkt, vielmehr ist ein weiteres zentrales Thema das Selbstverständnis als Frau.
Auch hier ist der Wandel sichtbar. Die Ur-Großmütter und Großmütter erkennen meist erst im Nachhinein im Gespräch mit Töchtern oder Enkelinnen ihre Frauenrolle als weiteres Handicap jenseits der Hautfarbe. Ihr Leben ist bestimmt von Vätern und Ehemännern, Freiräume ergeben sich erst, wenn sie auf sich alleine gestellt sind. Dann aber entwickeln sie erstaunliche Kräfte. Alle Großmütter-Erzählungen führen zu einem befreiten Leben im Alter in einer neuen, herrschaftsfreien Beziehung.
Die Generation der Töchter packt ihr Leben früher an. Als bekennende Feministinnen stellen sie Gendernormen und Rollenvorschriften in Frage, manche finden für sich neue Gender-Identitäten, bekennen sich als lesbisch, als transsexuell oder nicht-binär.
Dieser Weg ist nicht leicht, kann auch auf Abwege führen. Auch eine lesbische Beziehung kann in Unterdrückung und Beherrschung münden, die Befreiung daraus gelingt mit Hilfe starker Frauen.
Verknüpft sind die Figuren der Mütter- und Töchtergeneration über das Theaterstück „Die letzte Amazone von Dahomey“, dem provokanten feministischen Stück der lesbischen, schwarzen Regisseurin Amma, die es nach vielen Jahren des Kampfes in der alternativen feministischen Szene ins National Theatre in London geschafft hat.
Das Stück wird zu einem Riesenerfolg. Bei der Premierenfeier begegnen sich die Akteurinnen, deren Lebensbereiche sich einmal berührt haben. Da begegnet die Lehrerin Shirley ihrer ehemaligen Star-Schülerin Carole. Yazz, die obercoole, abgefahrene Hetero-Tochter von Amma, begegnet der nicht-binären Morgan (oder Megan, als sie noch binär dachte), von deren Erscheinung sie fasziniert ist. Morgan wiederum kann mit dem aufgeregten Spektakel der Londoner Feministinnen-Szene nichts anfangen. Shirley, die Lehrerin und Hetero-Ehefrau, fühlt sich in dieser Welt ihrer ehemals besten Freundin Amma ebenso unwohl wie Morgan.
Amma wiederum sonnt sich in ihrem Erfolg und wird von ihrer alten Freundin Dominique, die extra für zwei Tage aus Kalifornien angereist ist, animiert, mehr Kapital aus ihrem radikal feministischen Ansatz zu schlagen. Es bleibt offen, ob Amma sich korrumpieren lässt.
Evaristos Buch ist ein starker Aufruf für die Anerkennung der Leistung der Farbigen, insbesondere der Frauen, in der britischen Gesellschaft. Dabei geht es ihr darum, die Vielfältigkeit von deren Lebenseinstellungen, Lebensformen und Schicksalen zu beschreiben, die sich in keiner Weise von der der Nicht-Farbigen unterscheiden.
Evaristos Erzählweise ist deshalb so eindringlich, weil sie mit jeder Figur die Perspektive wechselt. Was wir grade aus der Sicht der Tochter oder der Enkelin gehört haben, erfahren wir im nächsten Kapitel aus der Sicht der Großmutter, so dass wir uns als Leserinnen und Leser ständig neu einstellen müssen. So relativiert sich die Sicht der Jungen, wenn man die Älteren mit ihrer eigenen Stimme hört.
Darüber hinaus wird in den Erzählungen der Großmütter eine historische Dimension geöffnet, die implizit die Kritik am britischen Imperialismus transportiert, der für viele Lebensschicksale der Afrikaner verantwortlich ist.
Allerdings ist es schade, dass Evaristo nur Erfolgsgeschichten erzählt. Weniger gelingende Biografien werden höchstens angedeutet, meist betreffen sie Männer.
Im letzten Kapitel, dem Epilog, gibt es noch eine Überraschung, die dann doch etwas sehr konstruiert wirkt. Das überrascht bei dieser Autorin, deren Figuren durchweg authentisch und glaubwürdig erscheinen.
Insgesamt liest sich das Buch mit großem Erkenntnisgewinn. Es gibt Einblick in große emotionale Kraft von Frauen, die alle Hindernisse überwinden, um ein neues und besseres Leben zu gewinnen.
Sprachlich ist Evaristo immer ganz nah am Idiom der jeweiligen Figur und von einer Prägnanz, die sich keine Redundanzen erlaubt. Dabei wird so spannend erzählt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.
Ermutigung könnte das Motto dieses Buches sein, Ermutigung für alle in einer Gesellschaft, die mit Ausgrenzung zu tun haben. Aber auch Aufklärung für alle diejenigen, die sich im Mainstream gut eingerichtet haben.
Keine Leserin kann der Frage ausweichen, wie sie selbst es mit People of Colour in ihrem Lebensumfeld hält, wie sie selbst mit der Diversität von Gender-Identitäten umgeht.
Jede Leserin muss sich vorbehaltlos ihren eigenen Vorurteilen stellen. Vielleicht gelingt es ihr, nach der Lektüre dieses Buches einiges bei sich selbst zu verändern.
Ein unbedingt lesenswertes Buch.
Das Buch ist in der deutschen Übersetzung 2021 im Klett-Cotta Verlag erschienen, hat 507 Seiten und kostet 25 Euro.
Elke Trost
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