Dass zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtsjahr neue Bücher über diesen Ausnahmemusiker erscheinen würden, war zu erwarten, doch das vorliegende Buch sticht aus der Menge biographischer oder musikgeschichtlicher Werke über bedeutende Komponisten vor allem durch seine analytische Schärfe und die intellektuelle Kopplung an philosophische Entwicklungen dieser Epoche heraus. Dabei betont Hinrichsen vor allem die Nähe Beethovens zu Immanuel Kant, und zwar nicht nur aus Bemerkungen oder Notizen des Komponisten, sondern vor allem auf stringente Weise unmittelbar aus seiner Musik.
Hinrichsen hat sein Buch zwar wie eine Biographie chronologisch aufgebaut, jedoch mehr aus Gründen der musikalischen Entwicklung als wegen des persönlichen Werdegangs seines Protagonisten. Biographische Details kommen nur in geringem Umfang vor und wenn, dann wegen ihrer unmittelbaren Auswirkungen auf Beethovens künstlerischer Tätigkeit. Dazu gehören etwa Erwähnungen der juristischen Streitigkeiten wegen des Sorgerechts für seines Neffen Karl. Selbst seine Wohnsitzwechsel von Bonn nach Wien sowie dort spielen in diesem Buch keine wesentliche Rolle. Dagegen bildet die gesellschaftliche Situation mit der ständischen Gesellschaft in Bonn und Wien sowie der französischen Revolution im Hintergrund einen Schwerpunkt. Hinrichsen analysiert und verdeutlicht nicht nur Beethovens Stellung als Künstler in dieser durchaus brodelnden Epoche, sondern auch seine Entwicklung zum gesellschaftskritischen Künstler, der einerseits Mäzene benötigt, sich andererseits aber nicht dem hierarchischen System unterwerfen oder gar andienen will. Da kommt ihm Immanuel Kants Appell an die mündige Vernunft des Menschen gerade recht.
Natürlich kann sich der Autor angesichts von mehr als 130 Werken – und dazu die kleineren Kompositionen ohne „Opus“-Rang – nicht mit allen Klaviersonaten, Sinfonien oder Streichquartetten beschäftigen, es sei denn, auf Kosten der analytischen Tiefenschärfe. So beschränkt er sich auf für ihn typische Werke, die nicht in jedem Fall mit den im Musikbetrieb zu Ikonen geronnenen Werken identisch sein müssen. Hinrichsen entwickelt einen wesentlich detailfreudigeren Entdeckerblick und entdeckt dabei Werke – und deren „versteckte“ Qualität -, die der Musikbetrieb eher stiefmütterlich behandelt hat.
Nach einer kurzen Betrachtung des „Andante favori“ als Beispiel einer „kleinen“ Komposition widmet er sich intensiv der Klaviersonate Nr. 8 op. 13, auch „Pathétique“ genannt. Anhand dieser Komposition aus dem Jahr 1799 entwickelt er einen Exkurs über das „Erhabene“, wobei dieses wie bei Kant nichts mit der gravitätischen Selbstüberhebung der Alltagsverwendung hat, sondern sich fast zwangsläufig als quasi transzendentale ästhetische Eigenschaft aus der Musik selbst entwickelt. Allein dieser Exkurs über das Erhabene lohnt schon die Lektüre des Buches.
Von hier aus kommt er nach einigen tief schürfenden Betrachtungen über weitere Parallelen in anderen Werken zu dem ersten „Rasumowsky“-Streichquartett. An diesem zeigt er Beethovens Tendenz, die gängigen Konventionen bis an die Grenze des damals Akzeptablen (und darüber hinaus) zu dehnen. Der konsequente Verzicht auf eine „schöne“ Melodie zugunsten einer rein rhythmischen Figur als Hauptthema des zweiten Satzes hat damals selbst bei Musikern Unverständnis ausgelöst, aber auch die Ahnung, dass diese Musik wohl erst spätere Generationen verstehen würden.
Die fünfte Sinfonie stellt Hinrichsen als „Schwesterwerk“ der von Puristen gern als Programmmusik verspotteten sechsten dar und zeigt dabei, dass Beethoven sie von vornherein als komplementäres Paar konzipiert hat, das die beiden Grundkonstanten des menschlichen Wesens – die (verantwortungsvolle) Vernunft und die (sich verströmende) Sinnlichkeit – in Musik umsetzt. Bei der fünften zeigt er die Entwicklung vom düsteren c-Moll der Realität zum strahlenden C-Dur der Utopie im Sinne von Kants Mündigkeit.
Auch bei der siebten und achten Sinfonie sieht er ähnliche Effekte walten. Die „wilde“ siebte, die viele Musikliebhabern heimlich als beste Beethoven-Sinfonie einschätzen, sieht er ebenfalls als eine „Schwester“ der achten, bei der er im Gegensatz zu dem wilden Parforceritt der siebten Beethoven neue Wege bezüglich der sinfonischen Form einschlagen sieht. Da sich diese oft in der Aufteilung der Schwerpunkt auf Exposition, Durchführung und Reprise sowie auf Tonartenwechsel zeigen, werden sie meist nur für analytisch deutende Rezipienten sichtbar bzw. hörbar. Ein Grund, warum die geraden Sinfonien wegen ihrer intellektuellen Experimente oft als zweitrangig wahrgenommen wurden und werden.
Ähnlich verfährt Hinrichsen mit den Klaviersonaten. Stellvertretend für diesen monumentalen Teil von Beethovens Schaffen wählt er ein eher unbekanntes Werk, die zwischen „Waldstein“ und „Appassionata“ von der Rezeptionsgeschichte geradezu eingezwängte F-Dur-Sonate op. 54. Anhand dieses nur zweisätzigen Werkes zeigt er, wie Beethoven mit der Sonatenform umgeht und in einem scheinbar zweitrangigen Werk neue Wege und Formelemente sucht.
Natürlich äußert er sich auch zu dem „Leonoren“-Komplex. Der Musikbetrieb sieht die beiden ersten Versionen gerne als unbefriedigende Versuche, die dann in die großartige, weil selbständige „Nummer III“ mündete. Doch Hinrichsen zeigt, dass Beethoven sich auch bei diesen „Vorläufern“ tief gehende Gedanken gemacht hat, wobei er die Stellung einer Opern-Ouvertüre und deren Auswirkungen auf die Werkeigenschaft eines solchen Werkes genau untersucht und jeweils mit anderen Zielen umgesetzt hat. Auch hier schreibt Hinrichsen ein Stück Rezeptionsgeschichte.
Eine langes Kapitel widmet der Autor der „Missa solemnis“, die vielen Musikfreunden nicht so recht in Beethovens eher säkulares Werk zu passen scheint. Hinrichsen zeigt, wie eingehend sich Beethoven mit Liturgie und Eigenarten geistlicher Musik auseinandergesetzt hat und wie er diese Spiritualität durchaus im Sinne der von ihm uneingeschränkt vertretenen Kantschen Vernunftidee umgesetzt hat. Dass er dabei das „Credo in unam ecclesiam catholicam“ schlicht weggelassen hat, ist dabei ein zwar kleines, aber aufschlussreiches Apercu. Hinrichsen rückt dieses Spätwerk Beethovens, dass im geistlichen Konzertbetrieb wenig gegen Bachs Messen ausrichten kann, wegen der musikalischen Besonderheiten und Formausweitungen wieder mehr in den Mittelpunkt des Interesses.
Daran schließt sich fast nahtlos eine Betrachtung der neunten Sinfonie an. Hier folgt ein längerer Exkurs über Schillers Ode, ihre Bedeutung für die gesellschaftspolitische Befindlichkeit sowie die philosophischen Tendenzen der Epoche – siehe Kant. Hinrichsen zeigt hier nicht nur deutlich die philosophische Ausrichtung dieser Sinfonie, sondern auch und vor allem die Bedeutung der Vokalmusik in diesem Textumfeld. Beethoven bricht sozusagen mit der Regel, dass Musik alles durch die eigenen Mittel und ohne das Wort ausdrücken muss, wohl auch, um die Bedeutung der Schillerschen Worte für die menschliche Gesellschaft zu betonen.
Das Buch darf natürlich nicht enden ohne die späten Streichquartette. Hinrichsen fasst die letzten fünf in einem weit ausgreifenden Kapitel zusammen und untersucht dabei besonders die Quartette in a-Moll, cis-Moll und das letzte mit der großen Fuge. Dabei zeigt er nicht nur die immer weiter sich aufspaltende Form der einzelnen Werke auf – das cis-Moll-Quartett besteht aus sieben(!() Sätzen – sondern geht auch detailliert auf die Bedeutung der Fugentechnik und Beethovens Umgang mit ihr ein – und das auch mit Seitenblicken auf andere Werke wie die Hammerklaviersonate. Bei dem letzten Quartett moniert er die heute gängige Praxis, den angeblich „simplen“ Finalsatz wieder gegen die ursprünglich geplante „große Fuge“ auszutauschen, und zeigt detailliert die Entstehungsgeschichte und die besonderen Qualitäten dieses „kleinen“ Finales auf.
Der Rezensent hat bewusst darauf verzichtet, die Details der einzelnen Werkanalysen und der Argumentation wiederzugeben; einerseits, weil dafür die eigene Kompetenz nicht ausreicht, andererseits, weil er den Lesern dieser Zeilen die Lektüre ohne einen lauen „Vorab“-Abklatsch empfehlen will. Liebhaber klassischer Musik – speziell von Beethoven – sollten sich dieses Buch unbedingt zu Gemüte führen, weil sie darin nicht nur über die Musik viele wissenswerte Details erfahren, sondern auch viel über die philosophischen und gesellschaftlichen Strömungen – Stichwort „Kant“ – sowie die Stellung und Funktion des Künstlers und der Ästhetik dieser Epoche erfahren.
Das Buch ist im Bärenreiter-Verlag erschienen, umfasst 388 Seiten und kostet 39,99 Euro.
Frank Raudszus
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