Schillers Drama über die französische Nationalheldin Jeanne d´Arc entstand zu einer Zeit, als Napoleon begann, Europa zu überrollen. Schillers Idealismus fand in der Figur der Johanna, die ihr Land durch einen leidenschaftlichen Patriotismus gegen die Engländer zum Sieg führte, ein hervorragendes Vorbild für ein in Deutschland noch zu schaffendes Nationalgefühl, um das Land zu einen und gegen Napoleon zu wappnen. Insofern ist Schillers „Johanna“ durchaus ein Fanal des (deutschen) Nationalismus, das man jedoch – wie alle historischen Stücke – aus dem Kontext der Zeit deuten muss.
Nun ist es allerdings eine fast wohlfeile Mode geworden, historische Stücke auf ihre politische Korrektheit aus heutiger Sicht abzuklopfen und bei entsprechender Fündigkeit zu demontieren. Das sichert den Beifall eines auf „PC“ abonnierten Publikums und verschafft den Interpretatoren das wohlige Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber historischen Geistesgrößen.
Auch Claudia Bossard ist dieser Versuchung bei der Inszenierung von Schillers „Johanna von Orléans“ im Staatstheater Darmstadt offensichtlich erlegen. Das beginnt bereits vor der ersten Szene im Prolog, den sie als lockeren „small talk“ in heutiger Alltagssprache zwischen zwei Darstellern der Inszenierung ablaufen lässt. Vor einer bühnenhohen Bildkulisse einer wilden Küstenlandschaft – Bretagne? – plaudern Béla Milan Uhrlau (La Hire) und Elen Gourio (Jeanne d´Arc) in einer nachgestellten Strandidylle zwischen Sand und Seegras über Schillers Stück und seine Aussage. Was sie sich erzählen, kommt wegen des gedämpften Zwiegesprächs und der Größe des Hauses nur in den ersten Reihen an; das spielt jedoch keine Rolle, weil es in dieser Szene ausschließlich darum geht, die beiläufige, fast interesselose Art der Diskussion darzustellen. Körpersprache und Ausdrucksweise verweisen eher auf Selbstbespiegelung als auf eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema. Ergänzend ist hier schon anzumerken, dass Elen Gourio die mädchenhafte Jeanne spielt, während Anabel Möbius für die kämpferische Johanna zuständig ist. Doch Elen Gourio, die von Gestalt und Frisur nicht zufällig auf Greta Thunberg getrimmt ist, bleibt stets als Johannas „alter ego“ präsent und wird später die Männer mit einem lautstarken „How dare you!“ attackieren. Die Verbindung zur Aktualität ist unüberhörbar, aber in der Sache nicht schlüssig, denn außer dieser berühmten Anklage wird keine logische Anknüpfung an Gretas Klimakampf angeboten. Die Ähnlichkeit weiblichen Protestes gegen eine versagende Männerwelt muss für diese etwas wohlfeile Allegorie reichen.
In den weiteren Szenen wechseln sich originale Schiller-Passagen mit Dialogen in bewusst banaler heutiger Alltagssprache ab. In halblauten Halbsätzen wirft man sich Trivialitäten und kleine Gemeinheiten an den Kopf, pflegt Marotten und persönliche Eitelkeiten, nur, um im nächsten Augenblick wieder auf Schillersches Pathos umzusteigen. Dabei werden die Schiller-Verse jedoch durchaus nicht als klamaukige Parodien präsentiert, sondern durchaus im Sinne des Autors, seien es die wütenden Ausfälle der französischen Gefolgsleute des resignierenden Königs, die eisigen Ausfälle dessen Mutter Isabeau, die motivierenden Worte der Agnes Sorel oder Johannas flammende Reden. Nur wird die in diesen Versen hoch gefahrene (idealistische) Spannung durch die nächste Trivialszene sofort wieder demontiert, als wolle die Regisseurin sagen: „Glaubt das alles nicht, das ist nur Vorwand für Eitelkeiten und persönliche Interessen“. Das stimmt zwar, damals wie heute – schaut man sich die Regierungen im Westen und Osten an – ist aber letztlich eine banale Aussage.
Das Treffen der feindlichen Lager zwecks Waffenstillstand findet in dieser Inszenierung als TV-Talkshow mit Béla Milan Uhrlau als ungeschickt bis peinlich agierendem Moderator statt. Dieser überflüssige Seitenhieb auf die TV-Branche ist ein typisches Beispiel für die mangelnde Konsistenz von nur als Selbstzweck fungierenden Regieeinfällen.
Die systematische Dekonstruktion von Schillers Text hat jedoch noch andere Folgen: die bewusst in banaler Alltagssprache mit müdem Sarkasmus oder beiläufiger Ironie vorgetragenen Metatexte außerhalb des originalen Textkörpers führen zu Längen, da sie ja gerade die idealistische Spannung demontieren sollen. Und die schlechte Akustik des Kleinen Hauses gibt den Szenen den Rest, wenn ein Großteil dieser Dialoge als Gemurmel untergeht. Man wartet geradezu sehnsüchtig auf die nächste Schiller-Passage, jedoch nicht aus bildungsbürgerlicher Liebe zur Weimarer Klassik, sondern weil dann stets ein verständliches – weil lautes – Stück der Handlung nachgeliefert wird.
Im Laufe dieser Inszenierung, aber mehr noch aus dem Programmheft, erfährt man, dass es hier auch um die Emanzipation der Frau geht, so, wenn Johanna die Heiratsanträge verschiedener Adliger ablehnt. Bei Schiller verweisen diese Szenen eindeutig auf ihre „Berufung“, bei Claudia Bossard soll das zwar die Befreiung der Frau verdeutlichen, nur liegen in der Handlung gar keine männlichen Repressionen vor, gegen die man bzw. frau sich wehren müsste. Und die bei Schiller im Vordergrund stehende „Mission“ wird dadurch systematisch denunziert, dass die kriegerischen Handlungen in den Hintergrund gedrängt oder – im Sinne eines „weiblichen“ Pazifismus? – marginalisiert werden. So erscheint Johanna mit fortschreitender Handlung weder als Heldin noch als emanzipierte Frau, sondern zunehmend als desorientierte junge Frau. Weil auch die Liebesbeziehung zu Lionel – wahrscheinlich wegen ihrer emanzipationsfeindlichen Aspekte – eher stiefmütterlich behandelt wird, bleibt nur Johannas Schuldgefühl, das wegen der fehlenden Liebesszene(n) unglaubwürdig wird. Anabel Möbius zitiert zwar den Text dazu, wirkt aber nicht wie eine zwischen Liebe und Pflicht zerrissene Frau.
So wankt das Stück von Szene zu Szene seinem Ende entgegen, das man spätestens nach der Hälfte der Aufführungsdauer sehnlichst erwartet. Da können auch die übergroßen Video-Installationen mit Hubert Schlemmer als kegelnder Kardinal keine Spannung schaffen. Man fragt sich eher verdutzt, was der Kardinal auf einer Kegelbahn zu tun hat, und bastelt sich die eigene Interpretation, dass die Kirche die Menschen halt wie Kegel umwirft. Nur ein Kegel-„Pudel“ kann sie vor der Vernichtung bewahren. Diese Metapher ist zwar an Banalität kaum zu übertreffen, drängt sich aber mangels überzeugender Alternativen auf.
Die Darsteller (generisches Maskulinum!) machen noch das Beste aus dem Stück, soweit es ihnen die Regie gestattet. Anabel Möbius gibt eine kämpferische und doch verletzliche Johanna; Katharina Hintzen, die man hier erfreulicherweise wieder einmal in Darmstadt sieht, spielt die Agnes Sorel mit deutlicher Artikulation und prägnanter Präsenz, und Karin Klein gibt eine eiskalte Isabeau. Daniel Scholz, Robert Lang-Vogel, Béla Milan Uhrlau und Mathias Znidarec verleihen den verschiedenen Kriegsherren und Adligen im Rahmen der Regiemöglichkeiten einige – wenn auch zeitweise nur parodistische – Kontur. Stefan Schuster spielt vor allem grimmige Feldherren und „stirbt“ auf einem veritablen Requisiten-Pferd, und Ernest Allen Hausmann schließlich hat mit dem selbstverliebten König Karl VII. eine undankbare weil nur parodierende Rolle.
Als Pluspunkt dieser Inszenierung sei noch vermerkt, dass die Darsteller (s.o.) endlich mal wieder ohne Masken auftreten, was einerseits die Verständlichkeit (etwas) erhöht und andererseits die Möglichkeit zu prägnanter Mimik gibt.
Frank Raudszus
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