In dem Roman „Der Apfelbaum“ schildert Christian Berkel das Leben von Sala, die aus einer intellektuellen jüdischen Familie stammt und die für Juden mehr als gefährliche Zeit vor dem und im Zweiten Weltkrieg bis hin zum Transport in ein Lager und glücklicher Flucht erlebt. In dem vorliegenden (Hör-)Buch setzt Berkel diese Familiengeschichte nahtlos fort und schildert den weiteren Verlauf nach dem Kriege aus der Sicht von Salas Tochter Ada, die 1945 unter schwierigsten Umständen zur Welt kommt.
Das Buch beginnt jedoch 1989 mit dem Fall der Mauer. Der politische Umsturz verunsichert die Mittvierzigerin Ada dermaßen, dass sie einen Psychotherapeuten aufsucht, dem sie in einem vierjährigen Sitzungsmarathon ihr Leben erzählt. Ihre sich anfangs nur zögernd und fast widerwillig ausgesprochenen Erinnerungen bilden in einer Art permanenter Rückblende den Inhalt dieses Buches.
Da Salas Mann sich bei Kriegsende noch in russischer Kriegsgefangenschaft befindet, wandert sie mit der frisch geborenen Ada nach Argentinien aus, wo sie als untergeordnete Hilfskraft mit schmalem Einkommen viele Demütigungen erfahren muss. Ada durchlebt ihre Kindheit vaterlos und erlebt – vermeintlich – glückliche Familien nur aus der sozialen Froschperspektive. Mitte der fünfziger Jahre kehren die beiden nach Berlin zurück und finden tatsächlich Salas Mann Otto wieder, der sich seiner Familie auch sofort wieder annimmt. Doch neben dem zwar intelligenten aber eher biederen Vater Otto, seines Zeichens Arzt, gibt es kurzzeitig auch einen anderen, sehr attraktiven Mann namens Hannes, der sich sehr um Ada kümmert und offensichtlich auch ihrer Mutter nahe steht. Doch die bleibt schließlich bei Otto, und Hannes verschwindet. Ada wird jedoch immer an den „netten“ Hannes denken, woraus sich später eines ihre zentralen Probleme ergibt: mit dem Einsetzen der Pubertät wird ihr klar, das auch Hannes ihr Vater sein könnte. Die Eltern reden jedoch nicht darüber, sondern beschweigen das Thema „Hannes“ konsequent.
Die Eltern und deren Freunde beschweigen jedoch noch viel mehr, nämlich vor allem die Jahre zwischen 1933 und 1945. Dabei leben sie mehr oder minder bewusst weiter in den autoritären Wertvorstellungen dieser Jahre. Otto war zwar offensichtlich nie ein Nazi und hasste deren Vertreter, aber auch an ihm ist die Kriegsschuld nicht spurlos vorbeigegangen. Und Sala leidet im Unterbewusstsein immer noch unter dem Trauma der Judenverfolgung. So klammert die Generation konsequent die Vergangenheit aus und redet vor allem mit den eigenen Kindern nie über die schrecklichen Jahre.
Adas Verunsicherung verschärft sich jedoch noch, als ihre Mutter die Familie plötzlich Hals über Kopf verlässt und ohne nachvollziehbare Gründe für ein Vierteljahr verschwindet, offiziell nach Buenos Aires; doch Ada vermutet Paris als Fluchtort, wo ihre Mutter damals Hannes kennengelernt hatte. Ada geht in Opposition zu ihren Eltern und deren Freunde, wagt die eine oder andere öffentliche Konfrontation und lässt die Schule schleifen. Ihr kleiner Bruder, „Sputnik“ gerufen, ist wegen des Altersunterschieds von zwölf Jahren auch keine große Hilfe. Ihre ersten Bekanntschaften mit Jungs enden in einer Katastrophe mit natürlichen Folgen, die einen heimlichen Abort erfordern. Auch hier ergeben sich wieder Kontakte zu alten, nicht unbedingt geschätzten Bekannten ihrer Mutter aus dem Kriege. Die Verfolgung der Juden in diesen Jahre bricht immer wieder durch die dünne Decke der neuen Wirtschaftswunder-Demokratie und lässt Ada, die wie alle der im Krieg Geborenen nie eine Aufklärung über diese Zeit erhalten hat, Schlimmes ahnen.
Im Studium gerät sie in Berliner Hausbesetzerkreise, kifft und lebt in sexuell „befreiten“ Wohngemeinschaften, bis ihr die dortigen Zustände reichen. Sie nimmt an Demonstrationen gegen den Schah und Vietnam teil und erlebt Benno Ohnesorgs Tod fast hautnah mit. Schließlich besucht sie Verwandte ihrer Mutter in Paris und erfährt dabei Einiges über das Dritte Reich, das Leid ihrer Mutter und auch über den sagenumwobenen „Hannes“, ihren potentiellen Vater.
Adas therapeutische Rückblende aus de neunziger Jahren endet mit der Teilnahme am „Woodstock“-Festival im Jahr 1968. Nun, im Jahr 1993, fühlt sie sich befreit von dem Druck eines privat und beruflich gescheiterten Lebens, und kann ihren Eltern sogar mit einiger Demut gegenübertreten.
Man fragt sich allerdings, warum das Vierteljahrhundert zwischen 1968 und 1989 bzw. 1993 bei der Rückblende ausgespart wird. Diese Jahre sind doch für eine 1945 geborene Frau entscheidend für ihren Lebensweg. Der Grund dafür ist wohl in Berkels schriftstellerischer Planung zu suchen. Interessanterweise wird Adas Bruder stets nur mit seinem Spitznamen „Sputnik“ erwähnt. Ob die Namen der anderen Beteiligten realen oder fiktiven Charakter haben, kann der normale Leser nicht entscheiden; wollte Berkel allerdings dem Bruder einen „echten“ Vornamen geben, hätte er die Wahl zwischen der Fiktion oder einer den meisten Lesern sofort erkennbaren Realität. Das wollte er wohl vermeiden.
Doch die Übereinstimmung ist natürlich deutlich: „Sputnik“ ist zwölf Jahre jünger als Ada, also 1957 geboren – wie der Autor. Außerdem wird er im Jahr 1989 kurz als Schauspieler vorgestellt. Alles klar. Man darf also annehmen, dass die fehlenden fünfundzwanzig Jahre dem dritten Buch einer Trilogie vorbehalten sind, die „Sputniks“ alias Xs Leben zwischen 1968 und 1993 Revue passieren lassen.
Das von Christian Berkel selbst gelesene Buch – es geht doch nichts über einen professionellen Vorleser! – atmet soviel authentisches Leben der fünfziger und sechziger Jahre, dass dem Leser aus Adas Generation (wie der Rezensent) mehr als einmal ein „Ja, genau so war es “ entschlüpft. Der graue Geist der späten Fünfziger und Sechziger und die eruptive Aufbruchsstimmung der späten Sechziger – noch vor der RAF – schlagen sich hier auf unnachahmliche Weise nieder, ohne deswegen jedoch die Kriegsgeneration auf wohlfeile Weise zu denunzieren. Man riecht förmlich das schlechte Gewissen einer ganzen Generation in den Worten und Weltdeutungen der Freunde und Verwandten von Adas Eltern.
Nach diesem Buch wartet man also mit Spannung auf den letzten Band der Trilogie – so er denn kommt.
Das Hörbuch ist bei HörbucHHamburg erschienen, umfasst 9 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 680 Minuten und kostet 20,95 Euro.
Frank Raudszus
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