Die letzten Worte des schwarzen Amerikaners George Floyd unter dem Knie eines Polizisten lauteten „I can´t breathe“ („Ich kann nicht atmen“). Wenig später war er tot. Das Staatstheater Darmstadt hat diesen Satz als Ausgangspunkt für eine spartenübergreifende Performance – es ist weder Oper noch Konzert noch Tanztheater und schon gar nicht Schauspiel! – genommen, das die Situation von Ausgegrenzten und Unterdrückten aller Art zum Ausdruck bringen soll. Die über zweistündige Produktion kommt vollständig ohne das gesprochene Wort aus und ist dennoch derart klar und aussagekräftig, dass man sich fast fragen möchte, ob man das Schauspiel überhaupt benötigt, um die „conditio humana“ darzustellen.
Dazu hatte man den afrikanischen Basstrommler Thomas Guei und die Choreografin Nadia Beugré von der Elfenbeinküste mit ihrer Truppe eingeladen, die beide die Regie des Abends verantworteten. GMD Daniel übernahm die musikalische Leitung und Intendant Karsten Wiegand die Kostüme.
Der Abend beginnt mit einer Art „Setzkasten“ in Bühnenhöhe, der die Lebensumgebung einer ethnisch gemischten Gesellschaft wiedergibt, wobei der Schwerpunkt auf farbigen Bewohnern liegt. Einer trommelt leise auf seiner Trommel, der andere klimpert auf der Gitarre, ein dritter tanzt, eine Frau schlendert umher – kurz: es ist Alltag in einem multikulturellen Vorort. Wer jetzt die Katastrophe oder das Verbrechen erwartet, liegt falsch, denn hier wird der freie, unbeschwerte Alltag geradezu zelebriert. Alle „atmen“ befreit, um gleich den Titel dieser Performance aufzugreifen. Denn der Atem ist die Grundlage des Lebens, und ohne ihn endet alles tatsächlich in der Katastrophe.
Aus dieser Szene entwickelt sich fast organisch eine lange Trommel-Szene mit Thomas Guei an der Trommel und den Tänzern, die ihre Körper zu den Rhythmen der Trommel sprechen lassen. Dann steigt aus dem Bühnenboden ein Trio von Klavier, Tuba und Piccolo-Flöte (welch Kombination!), das ein „Dona nobis pacem“ der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja intoniert. Hier wird die gesamte Spannweite des benötigten „Atems“ für die beiden Blasinstrumente präsentiert.
Spätestens jetzt schwenkt der bisher fast heitere Grundtenor ins Introvertierte, Klagende um, was durch das Umherirren eines einsamen Obdachlosen mit Discounter-Einkaufswagen noch betont wird. Es folgen verschiedene körpersprachliche Szenen, die wir nicht als Tanztheater bezeichnen wollen, weil sie kaum tänzerische Elemente, dafür aber ausdrucksstarke Körpersprache beinhalten. Die inhaltliche „Bedeutung“ der Szenen (Konzerne, Grenzen) lässt sich nur dem Programmheft entnehmen, was aber den Eindruck in keiner Weise mindert. Die Körper der Akteure bringen auch ohne semantische Erklärung Situationen und Ängste zum Ausdruck.
Dann folgt plötzlich, als wäre nichts geschehen, aus dem Rückraum der Bühne eine Orchestereinlage mit dem Finale aus Robert Schumanns „Ouvertüre, Scherzo und Finale“ op. 52. Eben noch wurden die Schrecken der verschiedenen Varianten des Kolonialismus beschworen, und jetzt folgt, fast heiter, die Musik der Kolonisatoren aus deren Blütezeit. Das lässt sich nur als bitterer Kontrast, ja als Sarkasmus verstehen.
Den beeindruckendsten Part, der denn auch die Mitte der Performance ausfüllt, ist Morton Feldmanns „Rothko Chapel“ für Gesang und Chor. Dazu wird wieder der Setzkasten des Beginns auf der abgedunkelten Bühne installiert und der Chor auf die Fächer des Kastens verteilt. Als einzige Beleuchtung werfen die Lampen der Notenbretter einen schwachen Schein auf die Vorderseiten der Chormitglieder und Musiker. Die Komposition besteht nur aus schwach changierenden, leicht und geradezu jenseitig im Raum schwebenden Klängen, die eine eindringliche, ebenso entsagende wie klagende Atmosphäre erschaffen. Auch hier steht der „Atem“ im Mittelpunkt. Assoziationen an die gregorianischen Gesänge oder an – spätere – Requiems werden geweckt, und diese Musik zieht sich über lange Minuten durch den Raum und die Zeit, so die Aussage und die Grundstimmung dieser Performance erschaffend.
In dieser Form geht es weiter mit körpersprachlichen Szenen und Musik, wobei der vierte Satz aus Gustav Mahlers 2. Sinfonie mit ihrem religiösen Text noch einmal einen Höhepunkt der Inbrunst und Erlösungshoffnung darstellt. Am Ende dann schwenkt diese Produktion noch einmal um, wenn mit dem „Victoire“ („Sieg“) doch noch der Sieg des jungen Jesus über den alten Satan beschworen und gefeiert wird. Dazu kommt fast das gesamte Ensemble noch einmal auf die Bühne und intoniert mit „freiem Atem“ gemeinsam diesen hoffungsvollen Text, der in seiner konkreten Form zwar geradezu naiv wirkt, aber dennoch die unstillbare Hoffnung auf Erlösung im Glauben überzeugend – und mitreißend – zum Ausdruck bringt.
Die vielfältigen Szenen und Musikeinlagen werden durch eine abwechslungsreiche Lichtregie, durch mal farbenprächtige, dann wieder puristische Kostüme, durch mal kleine, dann wieder große Bewegungsgruppen nicht nur aufgelockert, sondern buchstäblich mit Leben erfüllt. Das Regieteam lässt es nicht an Opulenz fehlen, die aber nie als Selbstzweck oder zur Beeindruckung des Publikums dient, sondern stets im Dienste der Choreografie steht. Keinen Augenblick hat man das Gefühl der bloßen Effekthascherei, und die durchaus betonte Aussage der Performance kommt nicht als nötigende Ermahnung an das Publikum daher, siehe Dostojewskis „Idiot„, sondern verteilt sich auf die einzelnen Bausteine dieser beeindruckenden Performance.
Frank Raudszus
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