Die sogenannten „Werte“ im Zusammenleben der menschlichen Gesellschaft wurden – und werden – einerseits auf eine höhere Macht, andererseits auf Ideen – in der Praxis oft Ideologien – zurückgeführt. Die Vertreter der säkularen Ideologien schreiben diese Werte in gewisser Weise selbst einer „höheren“ Macht zu, die sie aber in Abgrenzung zur irrationalen Religion einem nebulösen Kern des Menschen zuordnen.
In diese sorgsam gehütete und abgeschirmte Wertewelt bricht der englische Historiker und Archäologe Ian Morris mit seinem vorliegenden Buch ein und führt menschliche Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Hilfsbereitschaft auf die Art der Energiegewinnung in der jeweiligen Epoche zurück. Das hört sich im ersten Augenblick fast schon grotesk an und hat natürlich zu entsprechenden Reaktionen in der (Geistes-)Wissenschaft geführt. Wenn man sich vor Augen hält, welche geradezu abstoßende Wirkung Darwins Evolutionstheorie auf Theologie und Philosophie ausübte( und noch ausübt!), kann man sich die Kommentare vorstellen. Doch dazu später.
Morris hat dieses Buch natürlich nicht als theoretisches Thesenpapier „aus dem Bauch“ heraus geschrieben, sondern entsprechend recherchiert. Dabei hat er sich auf drei große Epochen der Menschheitsgeschichte konzentriert: die Zeit der Wildbeuter (auch „Jäger und Sammler“ genannt), die Landwirtschaft und die Ära der fossilen Energien. Seine These, die er mit viel Material belegt, lautet, dass jede dieser Epochen einen eigenen Wertekanon entwickelte, der letztlich auf die Art und die Effizienz der Energiegewinnung zurückzuführen war. Es gibt demnach keine „wahren“ menschlichen Werte, sondern nur „positive“, d. h. Werte, die für die jeweilige Energie-Ära die effektivsten sind.
Für die Wildbeuter konnte sich Morris auf keinerlei schriftliche Dokumente beziehen, sondern nur auf mehr oder minder umfangreiche Funde (hier kamen ihm seine Archäologie-Kenntnisse zur Hilfe) und auf die wenigen heute noch lebenden Wildbeuter-Kulturen, etwa im Amazonas-Gebiet. Seine These lautet, dass die Wildbeuter, die beim Jagen und Sammeln ausschließlich den kurzfristigen Konsum im Sinn hatten, zwangsläufig ein egalitäres System bevorzugten. Das Wildbeutersystem konnte nur kleine Gruppen von weit unter hundert Personen ernähren, die alle in die tägliche Nahrungssuche eingebunden waren. Spezialkenntnisse gab es nicht, da die Produktion allein in den Händen der Natur lag, und die Arbeitsteilung beschränkte sich auf die Jagd (Männer) und das Sammeln (Frauen und Kinder). Größere Besitztümer waren wegen der ständigen Ortswechsel nur hinderlich, dafür schnellte der Gewaltlevel schnell hoch, wenn interne oder externe Konkurrenten die tägliche Nahrung in Gefahr brachten.
Mit der Entwicklung der Landwirtschaft änderten sich die Bedingungen radikal, wenn auch über Zeiträume gestreckt. Aussaat, Ernte und Vorratshaltung erforderten nicht nur Sesshaftigkeit, sondern auch den gesicherten Zugriff auf die „eigenen“ Ländereien und die Abwehr von Plünderungen durch Wildbeuter oder andere Bauern. Gewalt war daher verpönt und nur als Reaktion der offiziellen Institutionen erlaubt. Die Energieausbeute stieg gegenüber dem Wildbeutertum gut um das Vierfache, so dass man größere Menschenmengen ernähren konnte. Das führte zu Hierachien, da der Bauer für die Umsetzung seines Wissens einfache Hilfskräfte für Aussaat und Ernte benötigte. Außerdem entstanden aufgrund des größeren Energieangebots neue Berufen und entsprechende Institutionen wie Justiz, Polizei und Militär, die letztlich die Besitzstruktur der Landwirtschaft sicherten. Sprich: um erfolgreich zu sein, benötigte die Agrarepoche eine ausgefeilte staatliche Struktur und Hierarchie. Außerdem richtete sich der „Wert“ des agrarischen Individuums nach der Größe seines landwirtschaftlichen und in der Folge des statusfördernden Besitzes. Diese These belegt Morris anhand vielfältiger schriftlicher Dokumente, aber auch durch vergleichbare Arbeiten anderer Wissenschaftler, die zu bestimmten Gebieten der agrarischen Epoche geforscht hatten.
Mit der professionellen Ausbeutung fossiler Brennstoffe begann vor etwa 250 Jahren die dritte Phase. Da nun Energieausbeuten weit über dem Zehnfachen der agrarischen Epoche möglich waren, entwickelte sich neben der Produktion vor allem das Transportgewerbe und damit der Handel. Für die Erweiterung und Bedienung der weltweit rasant wachsenden Märkte wurden eine Vielzahl von technisch und anderweitig ausgebildeten Menschen benötigt. Das noch aus der Agrarepoche übernommene System der schlecht bezahlten – d. h. ausgebeuteten – Arbeiter verabschiedete sich bald nach dem „Manchester-Kapitalismus“ und wich einem sozialeren System, einfach, weil die Bedienung von Produktions- und Transportmaschinen jetzt viel mehr Knowhow erforderte. Außerdem beförderten die zunehmende Globalisierung und Mobilität nicht nur die Chancen der Unternehmer sondern auch die Möglichkeiten der Arbeitnehmer. Aus all diesen Randbedingungen schließt Morris auf eine zunehmend egalitäres System im Fossilzeitalter. Er wäre aber kein Wissenschaftler, wenn er dieses nicht anhand einer Vielzahl von Tabellen und ähnlicher Forschungsergebnissen belegen könnte und würde. Als Beispiel sei nur der GINI-Koeffizient genannt, der für die Spreizung der Einkommen steht und der seine Thesen zumindest für das 20. Jahrhundert belegt.
Nun behaupten Wissenschaftler nie etwas „positiv“, sondern sie stellen Hypothesen auf und suchen nach Belegen für deren Stichhaltigkeit. Solange eine Hypothese nicht eindeutig durch (wiederkehrende) Evidenzen widerlegt ist, gilt sie weiterhin als Arbeitsgrundlage. Morris ist sich dieser Tatsache bewusst und geht daher auf viele möglichen Einwände à priori ein, kann sie aber mit den für seine These sprechenden Belege entkräften.
Doch um die Diskussion anzutreiben, hat er sich eine ungewöhnliche Vorgehensweise ausgedacht. Er hat seine Thesen einigen renommierten Wissenschaftlern aus natur- und(!) geisteswissenschaftlichen Fächern vorgelegt und sie um Kommentare als Teil seines Buches gebeten. Das haben fünf der Angefragten auch getan, allerdings mit wechselnder Durchschlagskraft. Den originellsten Beitrag hat die Schriftstellerin Margaret Atwood geliefert, der jedoch trotz seiner völlig anderen Perspektive wegen des von ihr selbst eingestandenen Kompetenzmangels wissenschaftlich weniger ins Gewicht fällt. Ein Altphilologe antwortete in geradezu bestürzend ehrlicher Naivität, dass ihm die gleichwertige Bewertung der „angeborenen“ menschlichen Werteskala fehle. Gerade die hatte Morris ja gerade in Frage gestellt, doch dieser Konfrontation wollte der Philologe „von altem Schlage“ wohl aus dem Wege gehen. So antwortet ihm Morris in seiner Replik mehr oder weniger mit höflichem Dank für seinen Beitrag.
Die längste und inhaltlich komplexeste Kritik liefert eine Philosophieprofessorin, die die „Antithese“ aufstellt, dass alle „positiven“, d.h. jeweils aktuell gelebten Wertesysteme nur ideologisch – Kapitalismus, Sozialismus – verzerrte Versionen eines „wahren“ Wertesystems seien. Woher diese „wahren“ Werte stammen, sagt sie jedoch nicht, und sie verweist dabei weder auf die Religion noch auf Darwin. Auch hier kommt der unterschwellige Wunsch auch – oder gerade – hochgebildeter Wissenschaftler nach einem „höheren“ Wertesystem zum Durchbruch, das nicht dem menschlichen „Zeitgeist“ unterliegt. Den Ursprung dieses Systems will oder kann jedoch keiner dieser eingefleischten Religions- und Darwinskeptiker benennen. So hat Ian Morris am Schluss relativ leichtes Spiel, seine Thesen zu verteidigen, ja sogar noch anzufügen, dass sich die Wertesysteme im 21. Jahrhundert noch dramatischer verändern werden. Auf der Energieseite sind Nuklear-, Wind- und Sonnenenergie hinzugekommen, und dazu kommt noch die „virtuelle“ Energie der Digitalisierung, die Morris in seinem der Vergangenheit gewidmetes Buch gar nicht thematisiert hat. Man kann der Digitalisierung durchaus eine energieanaloge Wirkung zuschreiben, müsste diese aber mit den drei geschilderten Energiearten auf irgendeine Weise vergleichbar machen. Das hätte wohl den Rahmen des Buches gesprengt, man darf aber annehmen, dass Morris bereits über ein neues Buch mit diesem Thema nachdenkt. Wenn das dann genauso überzeugend und verständlich geschrieben ist wie das vorliegende, können wir uns schon heute auf die Lektüre freuen.
Das Buch ist bei der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erschienen, umfasst 425 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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