Die Corona-Krise hat die bereits stark vorangeschrittenen Online-Aktivitäten in allen Lebensbereichen noch einmal befeuert. Das wie alle Theater von der Pandemie besonders betroffene Staatstheater Darmstadt hat aus der Not des stillgelegten Betriebes jetzt die Tugend eines Projektes gemacht, das einerseits die neuen Medien nutzt und mit ihnen spielt, andererseits die Risiken und Gefahren einer vollständig online organisierten Gesellschaft herausarbeitet.
Unter der Regie von Barish Karademir treten vier Mitglieder des Schauspielensembles sowie zwei Tänzerinnen und ein Tänzer als Darsteller einer Geschichte auf, die bei der Premiere im Kleinen Haus des Staatstheaters als Video auf einer die gesamte Bühnenfront einnehmenden Leinwand als Video abläuft. Man bewegt sich also vollständig im Rahmen der Pandemie- Vorschriften, die einen normalen Bühnenbetrieb mit „Echtzeit“-Schauspiel ausschließen.
Die Produktion wurde jedoch auf der Bühne des Kleinen Hauses erstellt und von einem Kamerateam aus verschiedenen Perspektiven des Zuschauerraums aufgenommen. Das hat zur Folge, dass den Zuschauern auf den jeweiligen Aufnahmeplätzen das Video fast wie eine Live-Aufführung vorkommt. Mit etwas Phantasie kann man sich die Leinwand wegdenken. Sobald die Perspektive zu einem anderen Aufnahmeplatz wechselt – und bei Nahaufnahmen -, schwindet diese Illusion natürlich dahin.
Da Corona die virtuelle Kommunikation in vielen Fällen an die Stelle der physischen setzt, bot sich das Phänomen der virtuellen Beziehungen geradezu als Plot der Handlung an. Dazu wurden vier parallele Handlungsstränge inszeniert, in denen es jeweils um „virtuelle“ Kommunikation geht. Im ersten verliebt sich eine Gefängniswärterin (Ulrike Fischer) in einen Insassen, verfolgt dessen Ehefrau mit eifersüchtigen Blicken und lässt sich von ihm manipulieren. Wie im Gefängnis üblich, erfolgt die Kommunikation zwischen diesen drei Protagonisten in gewisser Weise auch „virtuell“, da sie strengen Regeln unterliegt und ständig überwacht wird. Im zweiten Handlungsstrang verfolgt eine junge Frau (Edda Wiersch) ihren untreuen Ehemann über verschiedene elektronische Kanäle und entlarvt dabei seine Untreue. Im dritten verliebt sich ein Manager bei Videokonferenzen in eine junge Mitarbeiterin am anderen Ende der Welt, und im vierten denkt der Sicherheitsbeauftragte eines Flughafens über die terroristischen Gefährdungen und die Schwachstellen seines Arbeitsbereiches nach.
Diese vier Handlungsstränge spielen sich als parallele, ineinander übergehende Szenen ab, wobei die genannten Protagonisten ihre Texte in Mikrophone sprechen. Dabei überschneiden sich die Szenen der einzelnen Handlungsstränge nicht, sondern sind handlungstechnisch klar getrennt. Nur die Zuschauer erkennen deren Parallelität und die ähnlichen Kommunikationsmuster.
Die Tanzgruppe tanzt dabei keinen neo-klassischen Ausdruckstanz, sondern unterstreicht die Befindlichkeit der szenischen Protagonisten mit entsprechenden körpersprachlichen Elementen, die jedoch nicht die konkreten Handlungselemente oder gar Texte „bebildern“, sondern die dahinter sich entwickelnden Ängste und Hoffnungen zum Ausdruck bringen.
Ein wiederkehrender Satz beschwört die durchgehende Absicht aller mit Überwachung und Kontrolle befassten Stellen – Flughafen, Gefängnis -, die „Katastrophe“ zu verhindern. Überwachung, Gesichtserkennung und Ähnliches dienen angeblich nur diesem Zweck. Um dieser ständigen Überwachung zu entkommen, tragen die handelnden Personen transparente, teilbemalte Masken, die ihre Physiognomien zu archetypischen Gesichtsmustern erstarren lassen. Damit greift die Inszenierung Versuche chinesischer Bürger auf, die dort bereits eingeführte Online-Gesichtserkennung durch Masken zu unterlaufen. Doch gerade die mantra-artig beschworene Verhinderung der Katastrophe ruft diese förmlich herbei. Die Handlung führt alle vier Gruppen am Ende zum Flughafen – hier dargestellt am Beispiel des Frankfurter Flughafens -, wo der Sicherheitsbeauftragte eine Gefahr zwar erahnt, sie aber in einer Art Fatalismus sich entwickeln lässt. Die Geschichte endet in einer großen Detonation, die jedoch eher verbal beschworen als realistisch dargestellt wird. Die zu verhindernde Katastrophe tritt ein, und alle vier Geschichten finden ein letales Ende.
Die farbige Video-Projektion wird regelmäßig von Schwarzweiß-Szenen aus den Proben auf der selben Bühne unterbrochen, wobei die jeweils aktuelle Szene unter Probenbedingungen einschließlich Trainingskleidung und Regieanweisungen noch einmal in bewusst niedriger Auflösung unter einfacher Qualität – eben Probenmitschnitte! – gedoppelt wird. Das führt zu einem hübschen selbtsreferentiellen Theatereffekt.
Diese Produktion zeigt, wie kreativ man am Theater mit einer Ausnahmesituation wie der Corona-Pandemie umgehen kann und unter Einhaltung aller Auflagen dennoch eine spannende Geschichte mit viel aktuellem Bezug erzählen kann. In den Proben kann man im Gegensatz zu einer „Live“-Aufführung Abstandsregeln durchaus einhalten, und die Vorführung lässt sich dann corona-sicher als Video gestalten, was nicht heißt, dass man diese Inszenierung in anderen Zeiten nicht auch auf der Bühne vorführen kann. Aufgeschoben ist sozusagen nicht aufgehoben, und vielleicht sehen wir diese spannende Video-Produktion in absehbarer Zeit auch live.
Schauspieldirektor und Dramaturg dieser Inszenierung Oliver Brunner zeigte sich jedenfalls nach der Premiere gerührt vom Engagement des Ensembles und vom Beifall der naturgemäß wenigen Zuschauer, die durch kräftigen Beifall zeigten, dass diese Produktion sie in jeder Beziehung erreicht hatte.
Frank Raudszus
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