Große Musik vor kleiner Kulisse

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Über zwei Monate war es wegen der Corona-Pandemie sehr still im Staatstheater Darmstadt, und die Konzertsäle lagen buchstäblich brach. Zwei Kammerkonzerte und ein Sinfoniekonzert mussten abgesagt werden, von Opern ganz zu schweigen. Eine schreckliche weil an Live-Musik arme Zeit.

Quelle: Kronberg Academy

Im Zeichen der Lockerung der Einschränkungen konnte das Staatstheater jetzt auch den Konzertbetrieb wieder aufnehmen, wenn auch in anderer, reduzierter Form. So fand das Kammerkonzert der „Kronberg Academy“ nicht an einem Abend, sondern genau vier Mal an zwei aufeinander folgenden Tagen statt, jeweils mit nur einer begrenzten Zahl weit auseinander sitzender Zuhörer.

Die „Kronberg Academy“, eine Musikhochschule für ausgewählte Talente – vor allem Streicher -, war schon einmal Gast im Staatstheater, stand jedoch aktuell nicht auf dem Plan. Da die Corona-Pandemie das geplante Programm gründlich durcheinander gebracht hatte, bot es sich an, die benachbarte Institution um konzertanten Beistand zu bitten. Die Academy erfüllte diese Bitte gerne und erschien mit einem gemischten Team aus Lehrkräften und Studierenden. Mihaela Martin (Violine) und Frans Helmerson (Violoncello) vertraten den Lehrkörper, Carolina Errera (Viola), Sindy Mohamed (Viola) und Ivan Karizna (Violoncello) die Studentenschaft.

Auf dem Programm des – pausenlosen! – Abends standen zwei Streicherkompositionen: Felix Mendelssohn-Bartholdys Streichquintett B-Dur op. 87 aus dem Jahr 1845 und Peter Tschaikowskys Streichsextett d-Moll op. 70, entstanden im Jahr 1890. Da zwischen diesen beiden Kompositionen mit 45 Jahren etwa eineinhalb Generationen liegen, zeigte der Abend auch sehr eindrucksvoll den „Fortschritt“ des musikalischen Ausdrucks im 19. Jahrhundert.

Mendelssohns Streichquartett spiegelt noch den frühromantischen, fast unbeschwerten Gestus. Die beiden Violinen führen den lebhaften Beginn des ersten Satzes (allegro vivace) und leiten dann in das etwas ruhigere Seitenthema über. Der gesamte Satz wird geprägt von den dominanten Violinen, bei denen vor allem Mihaela Martin an der ersten Violine ausgeprägte Führungseigenschaften entwickelte. Auch den zweiten Satz – ein Andante scherzando – dominierten die Violinen, wobei sie sich auf ausgefeilte Frage-Antwort-Passagen mit den Violen einließen. Das Adagio des dritten Satzes beginnt mit einem getragenen Thema und lang gezogenen Bögen. Später kommen markante Ritardandi mit dramatischen Tutti-Einwürfen hinzu. Die erste Violine zeigte in diesem Satz klare und präsente Führung. Der Finalsatz beginnt geradezu überfallartig, dann folgt ein Tutti-Thema. Über lange Strecken übernimmt hier wieder die erste Violine die Rolle eines Konzertvortrages, und nach einem ausgeprägten Ritardando endet der Satz in einem expressiven Finale.

Die Interpretation zeichnete sich durch ein ausgesprochen gut abgestimmtes Zusammenspiel der fünf Akteure aus. Sie achteten sehr genau aufeinander, und vor allem bei den Tempo- und Dynamikänderungen zelebrierten sie diese Abstimmung förmlich, ohne dabei jedoch an Ernsthaftigkeit einzubüßen. Spielfreude und Präzision waren die Grundpfeiler dieser gelungenen Darbietung.

Tschaikowskys Streichsextett markiert den harmonischen wie strukturellen Kompositionsfortschritt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Teilten sich die Aufgaben bei Mendelssohn noch weitgehend in Melodieführung (Violine(n)), harmonische (Violen) und rhythmische (Cello) Begleitung auf, so verteilen sich jetzt all diese Komponenten fast gleichzeitig über alle drei Instrumentengruppen. Themen und Motive wandern durch die Instrumente, und Soli werden nicht mehr allein von der Violine gespielt.

Der erste Satz erhält durch seine 6/8-Taktung von vornherein eine tänzerische Note. In seinen komplexen Satzstrukturen mit den über die Instrumente verteilten Motiven erinnert er bisweilen an Tschaikowskys Zeitgenossen Brahms. In einer markanten Passage teilten sich die erste Violine und das Cello von Ivan Karizna das Thema und präsentierten es in einem intensiven Wechselspiel. Der Satz endet in einem furiosen Finale. Das Adagio des zweiten Satzes beginnt mit einem liedhaften Thema in einem 3/4-Takt, das sich dann im Laufe des Satzes breiter entfaltet und in verschiedenen Abwandlungen durch die Instrumente wandert. Der Mittelteil setzt geradezu unterirdisch ein und quillt dann förmlich aus der Tiefe eruptionsartig empor. Dieses Spiel setzt sich wellenförmig fort und kulminiert schließlich in einem eindrucksvollen Cello-Solo von Ivan Karizna. Der dritte Satz, ein Allegro moderato, beginnt mit einem russischen Volkslied, das die einzelnen Instrumenten anschließend vielfältig variieren, dabei aber stets den Volksliedcharakter beibehalten. Der Finalsatz schließlich enthält ebenfalls Züge eines Volkslieds, doch bildet ein ausgedehnte Fuge über eben dieses Thema den Schwerpunkt dieses Satzes. Anschließend erfolgt ein intensives Frage-Antwort-Spiel der Violinen vor allem mit den beiden Violoncelli, das durch die unterschiedliche Klangfarben dieser beiden Instrumenten geprägt ist.

Die sechs Musiker und Musikerinnen intonierten dieses komplexe Werk auf höchst dynamische und variantenreiche Weise, wahrten dabei aber bis zum Schluss die Transparenz. Zu jedem Zeitpunkt konnte man die einzelnen Stimmen bis ins Detail verfolgen, und trotz aller Dynamik und Spielfreude vor allem der Violinen entstand der Eindruck einer ausgeglichenen und gleichberechtigten Beteiligung aller Instrumente. Dieses Sextett vermittelte stellenweise den Eindruck einer Kammersinfonie, so kraftvoll und raumfüllend präsentierten die einzelnen Instrumente ihren Part. Kein Instrument ging unter, und es bestand zu keinem Zeitpunkt die Gefahr, dass die Vertreter des Lehrkörpers ihre Studenten „an die Wand spielten“. Dazu trug auch die Entscheidung bei, Fumika Mohri im zweiten Werk die Rolle der Ersten Violine zu übertragen, die sie souverän ausfüllte. Außerdem hielt sich der Cello-Lehrer Frans Helmerson dahingehend zurück, dass er die Solopartie(n) für das Cello dem jungen Ivan Karizna überließ.

Ein gelungener Kammermusikabend, der nur darunter litt, dass sich wegen der deutlichen Reduzierung der Zuhörerzahl nicht die rechte Konzertatmosphäre einstellen wollte, was man auch an dem begeisterten, aber notgedrungen dünnen Beifall merkte.

Frank Raudszus

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