Man kann bei dem 5. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt nicht mit Sicherheit sagen, was das Hauptwerk dieses Abends ist: Mozarts Sinfonie Nr. 39 in Es-Dur? Richard Strauss´ „Vier letzte Lieder“? Oder vielleicht doch Edgar Varèses „Déserts“? Jedes dieser drei Werke ist in seiner je eigenen Art von einer solchen Dichte, dass es schwer fällt, eines davon als Nebenwerk oder gar „Programmfüller“ einzustufen. Dabei decken die drei Kompositionen einen Zeitraum von über einhundertfünfzig Jahren ab und sprühen geradezu vor musikalischen Einfällen. Generalmusikdirektor Daniel Cohen hatte selbst die Leitung dieses Programms übernommen, und die Sopranistin Annette Dasch sang die „Vier letzte[n] Lieder“.
Mozarts Sinfonie leitet die Gruppe der letzten drei „großen“ Sinfonien ein und stammt aus dem Jahr 1788. Erstaunlicherweise weiß man bis heute nicht mit Sicherheit, ob diese Snfonie (und die ihr folgenden ) überhaupt zu Mozarts Lebzeiten aufgeführt wurden, die schließlich noch drei Jahre währten. Der erste Satz zeigte von Beginn an hohe Spannung, wozu die geschärften Akkorde nicht unwesentlich beitrugen. Das Hauptthema entwickelte sich in fast tänzerischer Manier, und generell prägten den Kopfsatz die weichen Klarinetten und die Trompetenfanfaren. Das „Andante“ des zweiten Satzes begann fast lyrisch, schwang sich dann aber zu dichter Dramatik auf und hielt die Spannung bis zum Schluss. Das Menuett dagegen kam beschwingt, aber dabei akzentuiert daher. Der tänzerische Duktus und die singenden Klarinetten verliehen dem Satz ein prägnantes Eigenleben. Der Finalsatz drängte dann fast ungestüm vorwärts, wobei die Transparenz der Stimme jedoch in keiner Weise litt. Wie es sich für die Klassik gehört, gerät auch ein schneller Finalsatz musikalisch nie aus den Fugen, da sei neben – natürlich! – Mozart der Dirigent davor. Daniel Cohen lenkte das Orchester mit Feingefühl und Bedacht durch dieses Spätwerk, und das Orchester folgte ihm mit hoher Aufmerksamkeit und ausdrucksstarker Intonation.
Der Übergang zu Richard Strauss´ letzten Liedern wirkte dann geradezu abrupt, betraten doch sowohl die Musiker als auch das Publikum eine ganz andere musikalische Landschaft: die der Spätromantik. Diese ist in diesem Fall wahrhaftig „spät“ zu nennen, da das Werk im Jahr 1948 entstand, als Arnold Schönberg und Anton Webern schon länger die zeitgenössische Musik definierten. Doch Richard Strauss führte mit der Vertonung der Gedichte von Hermann Hesse und Joseph von Eichendorff noch einmal zurück in die Zeit der Jahrhundertwende. Der weit über 80jährige Strauss verfasste mit dieser Vertonung seinen musikalischen Nachlass, wenn nicht bewusst, dann unbewusst. Die Orchestermusik ist geprägt von einer untergründigen Abschiedsstimmung, die sich zwischen Abgeklärtheit Abschiedsschmerz und Melancholie bewegt. Die zugehörige Singstimme stellt nicht nur gesangstechnisch sondern auch interpretatorisch höchste Ansprüche. Erstere schlagen sich nicht unbedingt in schnellen Koloraturen nieder, sondern vor allem in den äußerst schwierigen Tonfolgen, die keinem eingängigen Liedschema folgen, sondern viele absteigende Halbtonschritte und dann wieder größere Intervalle beinhalten. Annette Dasch beeindruckte das Publikum mit einer ausgesprochen kräftigen Stimme, die sich jederzeit gegenüber dem Orchester behaupten konnte und von sich aus den Raum füllte. Darüber hinaus bestach sie durch ihre intensive Interpretation dieser letzten Abschiedslieder, ohne jemals in die Sentimentalität abzugleiten. Davor bewahrte sie schon ihre kraftvolle Stimme. Das letzte Lied, „Im Abendrot“ von Joseph von Eichendorff. beginnt mit einem außergewöhnlich langen Orchestervorspiel und endet nach dem Gesangsvortrag in einem symbolträchtig-geistlichen Duett von Flöten und Posaunen. Wem diese vier letzten Lieder nicht unter die Haut gingen, der ist entweder völlig unmusikalisch oder für Lebensabschiede dieser Art generell nicht empfänglich.
Und wieder führte ein abrupter musikalischer Bruch in die Moderne, obwohl Edgar Varèses „Déserts“ („Wüsten“) nur wenige Jahre nach Strauss´ letzten Liedern entstand. Doch musikalisch liegt fast ein Jahrhundert zwischen diesen beiden Werken. Varèse verlässt den bekannten tonalen Bereich mit festen Tonleitern und harmonischen Gerüsten und geht nur noch dem Erleben des Klangs nach, den er auf unterschiedlichste Weise zu erzeugen versucht. In Ermangelung neuer Instrumente nahm er die Elektronik zur HIlfe und vermiste den Klang „echter“ Instrumente – hier vor allem Blasinstrumente – mit elektronischen Samples. In „Déserts“ begleitet eine Video-Installation auf einer bühnenhohen Leinwand an der Bühnenrückwand die akustische Intonation des Orchesters. Das Video zeigt anfangs Unterwasserwüsten und eine Tischszene mit Mann und Gläsern, dann werden die Wasserszenen durch Abbildungen von Salzseen sowie Sand- und Felswüsten ersetzt. Man kann das durchaus als symbolhafte Darstellung des Lebens aus dem Wasser interpretieren. Am Ende der Tischszene stürzen alle menschengemachten (Glas-)Gegenstände vom Tisch und zersplittern; der Mensch selbst stürzt sich ins Wasser. Ein angesichts der Klimakrise durchaus hellsichtige Utopie (oder Dystopie) der fünfziger Jahre! Das musikal-akustische geschehen auf der Bühne ist jedoch keine musikprogrammatische Abbildung des Videogeschehens, sondern folgt eigenen klanglichen Gesetzen. Varèse war wohl auch weit davon entfernt, seiner Musik einen politisch anklagenden Anstrich zu geben. Ihm ging es in erster Linie um die Erweiterung des Klangraums, und das ist ihm mit diesem Werk auf beeindruckende Weise gelungen. Das Publikum kann sich der Wirkung dieses Musikstücks nur schwer entziehen, da es zusammen mit dem Video eine starke suggestive Wirkung entfacht.
Dieses Sinfoniekonzert führte die moderne Musik in ihren faszinierendsten Facetten auf sinnvolle Art und Weise mit der traditionellen Musik zusammen und beweist damit die Daseinsberechtigung aller musikalischen Epochen für die heutige Rezeption.
Frank Raudszus
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