Der Roman „Puschkins Erben“ beginnt mit einem Ausflug in den Sommer 1820 und lässt den großen russischen Dichter daselbst lebendig werden. Puschkin ist von Alexander I. ans Schwarze Meer verbannt worden, ins klimatisch relativ angenehme Odessa. Die Reise in der Kutsche ist beschwerlich, und nach den ausgedehnten Wäldern Weißrusslands erreichen Puschkin und sein Leibeigener Nikita die Steppe: „kahl und bleich wie Packpapier“, heiß und staubig. In dem unbekannten Kaff Zaporoschje wird Halt gemacht. Dort fließt der Dnjepr so breit dahin, dass schon Nikolai Gogol dazu bemerkte: „Selten nur fliegt ein Vogel bis über die Mitte des Dnjepr. Dieser Gewaltige! Kein Fluss der Erde kommt ihm gleich.“
Puschkin sieht den Fluss, entledigt sich seiner Kleidung, wirft alle seine Ringe zu Boden – Geschenke diverser Gräfinnen – und stürzt sich nackt in den Fluss. Nikita muss Ringe und Kleidung einsammeln und für später bereithalten. Puschkin indes krault sportlich durch den Fluss, überwindet eine Stromschnelle und klettert die Klippen hinauf. Svetlana Lavochkina beschreibt diese Genre-Szene sehr lebendig und entlockt dem Leser das ein oder andere Schmunzeln.
Bei der Aktion geht ein Türkisring verloren. Er ist nicht mehr auffindbar und begleitet die Leser weiter bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Hier erlebt der Leser eine Zugfahrt der Doktorandin Alka von Moskau nach Odessa. Alka sitzt mit zusammengepressten Beinen im Zug, denn ihr Portemonnaie ist aus Angst vor Raubüberfällen in ihren Schlüpfer eingenäht.
Alka ist 29 Jahre alt und gilt als eine der fleißigsten Doktorandinnen Moskaus. Die Mutter hat sie zu einer Sylvesterfeier in Richtung Odessa geschickt, in der Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch ein Verehrer findet, denn Alka mit ihrem roten, kaum zu bändigenden Haarschopf ist nicht leicht an den Mann zu bringen. Es geht nach Zaporoschje, das den Lesern bereits in der Szene um Puschkin und Nikita begegnet ist. Die Familie Katz feiert hier in ihrer bescheidenen kleinen Wohnung den Jahreswechsel.
Für Alka ergibt sich natürlich keine Beziehung, und drei Jahre später sitzt sie immer noch an ihrer Dissertation in Zaporoschje. Alle Verkupplungsversuche der Verwandschaft sind gescheitert, dafür erlebt der Leser russisch-ukrainischen Alltag in Reinform. Jeder laviert sich durch das Leben, wie es gerade geht, und die Lüge bestimmt das Zusammenleben. Die Korruption ist allgegenwärtig, und durch die oberflächlichen Familiengeschichten zieht sich harte Systemkritik. Im Kommunismus werden Menschen in Rollen gezwungen, die mit ihren eigentlichen Wünschen und Sehnsüchten nichts zu tun haben. Es bleiben nicht einmal die Träume, denn je weiter das Leben fortschreitet, desto herber sind die Enttäuschungen. So ist es nur konsequent, wenn die Autorin eine deftige Sprache verwendet, die den westliche sozialisierten Leser bisweilen verblüfft, aber eigentlich nachvollziehbar ist. Warum sollte sich ein verzweifeltes Leben elegant ausdrücken?
Nach dem Scheitern aller Wünsche und Sehnsüchte stürzt zum Schluss noch – wie ein Symbol! – die Brücke über den Dnjepr ein, und Puschkins verlorener Ring taucht wieder auf…..
Svetlana Lavochkina nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie das Leben der Großfamilie Katz und ihre verzweifelten Versuche schildert, ein zufrieden stellendes Leben zu führen. Nationalismus, Antisemitismus, Korruption, ein verlogenes politisches System und der alltägliche Kleinkrieg der Familienmitglieder untereinander – all das wird hier zu einer großen Familiensaga verwoben.
Das Buch ist im Verlag Voland & Quist erschienen, umfasst 356 Seiten und kostet 24 Euro.
Barbara Raudszus
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