Wer Theater ausschließlich als Bildungsanstalt oder als Diskursplattform für die Menschheitsprobleme betrachtet, ist in diesem Stück definitiv fehl am Platze. Wer aber den Witz – einschließlich allfälliger Kalauer! – und die schräge Idee liebt, der wird bei der Darmstädter Inszenierung von John Buchans und Alfred Hitchcocks Komödie „Die 39 Stufen“ auf seine Kosten kommen.
Der Theaterspaß beginnt bereits vor dem Anfang auf selbstreferenzielle Art und Weise, wenn der Hinweis auf das Ausschalten der Smartphones nicht vom Band sondern von einem vermeintlich bierernsten Inspizienten kommt, der vor dem Vorhang beginnt und dann verzweifelt versucht, die Technik zum Heben desselben zu bewegen. Schon hier geht alles schief, und eine Darstellerin muss ihn erbost ermahnen, zum Ende zu kommen. Aber der Mahner muss noch das „Applaus“-Schild zeigen und auf dessen Aufgabe im weiteren Verlauf des Abends verweisen.
In Wirklichkeit ist Jan-S. Beyer der „Mann am Schlagzeug“, der jedoch das Stück nicht nur mit markigen Paukenschlägen untermalt, sondern auch alle auf der Bühne erforderlichen Geräusche mit einfachsten Mitteln – ganz entgegen den heute technischen Möglichkeiten – selbst erzeugt, oder auch mal seinen Einsatz vergisst, wenn er gerade Zeitung liest oder Kaffee trinkt. Dann kommen die „Stichworte“ der Darsteller im Stentorton angeflogen.
Béla Milan Uhrlau tritt als Bond-Imitation Richard Hannay im gepflegten Anzug mit Fliege und blasiertem Gesichtsausdruck auf. Der ziellos durchs Leben treibende Enddreißiger lernt bei einer Theaterveranstaltung die seltsame Annabella Schmidt kennen, die ihn um Unterkunft bietet, da sie angeblich von Agenten verfolgt wird. Sie weiß zuviel über einen feindlichen Agenten, der die wichtigsten Geheimnisse des Landes ins Ausland entführen will. Als er sie nachts mit einem Dolch im Rücken vorfindet, kann die Sterbende ihm gerade noch etwas von „39 Stufen“ und einem Professor auf Amrum erzählen, der mehr wisse. Als Hannay die Gefahr erkennt, als Mörder verdächtigt zu werden, flieht er Hals über Kopf, und es beginnt eine abenteuerliche Flucht von Darmstadt (sic!) in den hohen Norden. Schon hier sieht man die radikale Adaption der Vorlage an heutige und lokale Verhältnisse. Dass sich die Husumer Nordfriesen, wo sich Hannay vor seinen pseudoitalienischen Verfolgern verstecken kann, als Ostfriesen ausgeben, ist wohl deren witzaffinem Ruf zu verdanken, und dass der Bauer im nebligen Nebel schwäbischen Dialekt spricht, konterkariert bewusst die Erwartungshaltung des Publikums.
Die Reise selbst erfolgt per Bahn, und dabei ergeben sich viele Slapstick-Momente, etwa, wenn Hannay und seine nichtsahnenden Mitreisenden bei jedem Brems- und Anfahrmanöver vor- und zurück kippen. Hier wechseln die Darsteller auch verstärkt die Ebenen. Da außer Uhrlau alle anderen Rollen von genau drei Darstellern gespielt werden – Nicole Kersten, Robert Lang und Stefan Schuster -, müssen die ihre Rollen teileweise im Sekundenbereich wechseln und dabei den Unterschied nur durch Kopfbedeckung und Mimik bzw. Gestik markieren. Das führt dann nach einem geradezu höllischen Wechselspiel Stefan Schusters zwischen Zeitungsjunge und Polizist dazu, dass der Schauspieler(!) die Nase voll hat und über die Zumutung zetert, dieses Stück vielleicht fünfzig Mal spielen zu müssen. Als schließlich Robert Lang, als Dornenbusch verkleidet, Béla Milan Uhrlau auf seiner nächtlichen Flucht durchs Moor zu sehr quält, rastet dieser aus, und die beiden schreien sich an, gehen sich gegenseitig fast an die Gurgel, so dass man ob der Echtheit der Szene befürchten muss, dass die beiden die Aufführung schmeißen. Robert Lang jedenfalls ist fünf Minuten lang beleidigt und äußert nur Grunzlaute. Das ist natürlich alles minutiös geplant, wirkt jedoch wie ein echter Bühnen-Eklat.
Grotesk ist auch die Situation, wenn Uhrlau als vorerst beim Bauern untergeschlüpfter Hannay als Hilfskraft einen Klapptisch aufbauen will und das in bester Loriot-Manier zum Desaster ausarten lässt. Auch die Fahrt mit den besagten pseudoitalienischen Pseudo-Polizisten im Fiat 500 ist wegen der stimmlichen Simulation sämtlicher Autogeräusche und anderer Slapstick-Ideen mehr als einen Lacher wert.
Wenn Hannay endlich das Haus des besagten Professors erreicht, ist dieses nur durch sieben immer größer werdende Türen zu erreichen, und ein kryptisch vor sich her brummender Türschließer öffnet diese Türen in pedantischer Manier. Eine entfernte Hommage an Kafka. Wenn dann der als Spion entlarvte „Professor“ eine flammende Rede über seine Beweggründe hält, ist die Nähe zum den „Höcke-Flügel“ der AfD unüberhörbar.
Und dann wird es auf einmal fast makaber-ernst: nach der entlarvenden Rede des Professors schleppt sich Hannay alias Uhrlau im langen, grünen und verschmutzten Mantel, vornübergebeugt und mit rauher, rrrrollender Stimme vor sich hin schwadronierend wie weiland Bruno Ganz in „Der Untergang“, über die Bühne.
Die blitzschnellen Rollenwechsel entwickeln nicht nur durch ihre teilweise virtuose Verwandlung einen witzigen Effekt, sondern bringen auch jedes Mal eine originelle Idee mit sich, die wieder zum Lachen einlädt. Dabei zieht sich eine geradezu surrealistische Linie durch die ganze Inszenierung, denn um die Lösung des Spionagerätsels geht es überhaupt nicht mehr. Die Menschen sind nicht die, für die man sie hält, und Béla Milan Uhrlau stolpert als „Hannay im Glück“ durch alle tödliche Gefahren. Und wenn sich das Rätsel am Schluss löst, wird noch einmal der Theatertod persifliert: Stefan Schuster setzt noch drei Mal nach seinem vermeintlich letzten Atemzug zu weiteren geheimen Auskünften an, und man denkt dabei an Operntode, bei denen der Held auch erst eine lange Sterbe-Arie zu Ende singen muss, bevor er endlich den Geist aufgeben darf.
Auch das Staatstheater bekommt sein „Fett weg“. Als der über ein unglaubliches Faktenwissen verfügende Varietékünstler Mr. Memory nach dem Datum der letzten Renovierung des Kleinen Hauses gefragt wird, antwortet er in ekstatischem Ton „niemals seit dem Bau des Hauses!“. Und die technischen Pannen häufen sich während der Aufführung, allerdings nicht als Vorwurf an das Haus, sondern allein als selbstreferenzieller Witz über die Pannen im Theater.
Den Darstellern bereitet diese Inszenierung offensichtlich viel Spaß, können sie doch ihrer komödiantischen Anlage freien Lauf lassen und auch – durch Ebenenwechsel – die Grenzen der Fiktion sprengen. Dabei zeigen alle vier hervorragende Leistungen und halten das Tempo und den Witz bis zum letzten Augenblick auf hohem Niveau.
Wer sich einen Abend lang gut unterhalten und richtig amüsieren will, sollte sich diese Inszenierung anschauen. Der Erkenntnisgewinn besteht allerdings lediglich(?) darin, dass man das Leben mit einer guten Portion Humor nehmen sollte und sich nicht dem Katastrophenmodus ergeben sollte. Den Klimawandel hat man deshalb in diesem Stück bewusst ausgeklammert.
Das Premierenpublikum war begeistert und spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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