Gedankenverloren und etwas verdrossen rührte Heinrich Hoffmann in seinem Kaffee. Er saß an einem kühlen Februar-Nachmittag in einem Wirtshaus in der Altstadt nahe dem Frankfurter Römer, die ihm seltsam bekannt vorkam, obwohl er hier seit gut 130 Jahren nicht mehr gewesen war. Ach Gott, wie die Zeit verrann! Warum hatte ihn Petrus auf die Erde beordert? Nur wegen des plötzlich um sich greifenden Virus? Da waren doch schon Sauerbruch, Pasteur und andere in irdischer Verkleidung unterwegs. Er hatte auch mit seinen fehlenden Kenntnissen des Chinesischen gegen diese Reise protestiert, aber Petrus hatte nur geantwortet, er könne ja Frankforder schwätze und solle mal schauen, ob der Virus sich bereits über die neumodischen Flugapparate bis an den „Maa“ (ja, so hatte er das wirklich gesagt!) vorgewagt hätte. Da saß er nun und wusste nicht, wie er vorgehen sollte.
Da es mittlerweile dunkelte, beschloss er, erst einmal in sein Gasthaus zu gehen, und zahlte seinen Kaffee mit den seltsamen Münzen, die ihm Petrus mit auf den Weg gegeben hatte. Als er zu seinem Mantel griff, stellte er nach einem Griff in die Manteltasche zu seinem Erschrecken fest, dass jemand den Mantel vertauscht haben musste. Kein Schlüsselbund, dafür aber eine einsame Eintrittskarte. Mit wachsendem Erstaunen las er auf dem flachen Billet: „Uraufführung Der Struwwelpeter“! Wie bitte? Das konnte doch nicht wahr sein! Wahrscheinlich hatte irgendjemand zufällig den Namen seines Kinderbuchs für ein Theaterstück gewählt. Denn das Buch kannte in Deutschland nach so langer Zeit niemand mehr. Er wollte das Billet schon wegwerfen, als er die Adresse las: Volksbühne, Großer Hirschgraben. Er wusste nicht, warum ihm plötzlich bei dieser Adresse die Farbenlehre in den Sinn kam, aber dann erinnerte er sich, dass diese Straße nur einige Gehminuten entfernt lag. Die Neugier auf den Usurpator seines Titels lockte ihn nun doch, und er machte sich auf den Weg.
Über Kornmarkt und Berliner Straße erreichte er den Großen Hirschgraben in knapp zehn Minuten und stand vor einem geräumigen Innenhof, in dessen Ecke der Einlass zur „Volksbühne“ nicht zu übersehen war. Das wie neu wirkende Foyer der Bühne war voller Menschen, die zu den beiden Eingängen drängten. Er schloss sich ihnen an, zeigte seine Karte, und schon saß er auf einem guten Platz in der sechsten Reihe. Alles sah hier so gepflegt aus – außer den Menschen, die gar keine seriöse Kleidung trugen. Die Männer trugen kragenlose Hemden, und die Frauen liefen sogar in Hosen herum!
Dann erlosch das Licht, und vor den Vorhang trat ein mittelalter Herr ganz nach seinem Geschmack: graumeliertes Haar mit Koteletten, randloser Kneifer, Gehrock, gelbe Hose und rote Weste mit Binder. Es gab also doch noch gut gekleidete Herren! Sein Auftreten war vielleicht ein wenig zu gravitätisch, ja exaltiert, aber das musste im Theater wohl so sein. Anscheinend gaben sie hier wirklich eine Stück namens „Struwwelpeter“, was immer das war!
Als sich der Vorhang öffnete, steigerte sich sein Erstaunen zur reinen Verwirrung. Die gesamte Bühne war mit Musikern angefüllt, wie bei einem Konzert. War er hier in einer Oper gelandet? Doch nein, an der Rückwand sah er „seine“ Struwwelpeter-Zeichnung prangen, in Überlebensgröße. Und dann erschien eine Frau, die genau so aussah wie Paulinchen in der Geschichte um die Streichhölzer. Offensichtlich hatte man sein kleines Kinderbuch doch nicht vergessen, welch Wunder!
Und dann begann ein wahres Feuerwerk aus Musik und praller Darstellung seiner Struwwelpeter-Szenen. Nacheinander erschienen alle seine Kinderfiguren auf der Bühne: Hans-guck-in-die Luft, Paulinchen, der Daumenlutscher, der böse Friederich, die schwarzen Buben, der wilde Jäger. der Suppenkaspar, der Zappelphilipp und der fliegende Robert. Und der Mann und die Frau auf der Bühne in ihren anheimelnden Kostümen trugen die Szenen nach Herzenslust und mit viel Gestik und Mimik vor. Die Frau erfand dazu die tollten Grimassen, etwa für den Hasen mit extra Hasenzähnen, und dem Suppenkaspar verlieh sie nicht nur eine ganz eigene Stimme – „ich effe meine Fuppe nich!“, sondern zog mit dessen abnehmendem Gewicht auch die Wangen immer mehr ein. Paulinchens Schicksal nahm geradezu tragische Züge an, dabei hatte er das doch nur als Ermahnung geschrieben. Und das mittägliche Drama um den zappelnden Philipp stellten die beiden mit wackelnden Lesepulten so glaubwürdig nach, das man stets Angst hatte, sie fielen gleich um. Der würdige Herr mit den Quasten an den Wangen breitete die Arme aus und trug seine – Hoffmanns! – Zeilen mit donnerndem Pathos vor oder bekam das Wort „Paulinchen“ erst nach endlos erscheinenden Fehlversuchen über die blockierten Lippen, bis dann die restlichen Zeilen nur so aus ihm heraus sprudelten. Beim Jäger hantierte „Sabinchen“ gar mit einem Papp-Gewehr, vor dem nicht nur der den Jäger spielende Quastenmann sondern auch die Chefmusiker in Angst erstarrten. Und bei dem in die Luft starrenden Hans hantierte Sabinchen viel mit Fischen und Männern.
Das Ganze lief aber nicht nur zwischen diesen beiden aufgedrehten und immer mit neuen Ideen überraschenden Darstellern ab, sondern die Musiker erweiterten die Geschichte zu einer wahren Struwwelpeter-Oper. Dabei wanderten sie mit kräftigen Klängen und eigenen, robusten Motiven durch die Musikgeschichte. Neben Bach und Mozart kamen auch Moldau – äh, Smetana – und Tschaikowsky zu Gehör, letzterer mit donnernden Moll-Akkorden auf dem Klavier. Andere Szenen wurden wieder mit ganz rhythmischer Musik hinterlegt, zu der das Biedermeier-Paar auf der Bühne die Texte atemlos in einem rapsodischen(!) Sprechgesang vortrugen. Hier wurde dem guten Heinrich etwas schwindlig, weil er diese Musik keinem bekannten Komponisten zuordnen konnte.
Die Dirigenten lösten sich aus Angst vor Sabine mit dem Gewehr am Pult ab und flohen nach jeder Szene wegen ihrer schrecklichen Grimassen an ihre Instrumente im Hintergrund, vertrugen sich aber am Ende wieder mit ihr. Das lag wohl auch daran, dass sie als Hund, der den bösen Friederich biss, sich wieder in die Herzen der Musiker und Zuschauer gespielt hatte. Da war dann auch die Schere vergessen, mit der sie dem Daumenlutscher grausam die Daumen abgeschnitten hatte – was man aber leider nicht sehen konnte…
Die Musiker nahmen die pathetischen und wortgewaltigen Ermahnungen des Quastenmannes durchaus ernst und spielten nicht nur gut und laut, sondern sangen auch an verschiedenen Stellen mit, so dass diese „Struwwelpeter“-Oper sogar noch mit einem Chor aufwarten konnte.
Als der Vorhang fiel und die Zuschauer wie verrückt klatschten, rollten Heinrich Hoffmann die Tränen der Rührung über die Wangen. So hatte sein harmloses Kinderbuch, was zwischenzeitlich schon verhöhnt worden war (wie er von Neuankömmlingen von der Erde gehört hatte), doch alle Jahrzehnte überlebt und war nicht auf dem Müllhaufen der Literaturgeschichte gelandet. Glücklich lief er im Strom der abwandernden Zuschauer den Hirschgraben hinunter, und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Petrus hatte nicht den China-Virus gemeint, der in Frankfurt angekommen war, sondern den „Struwwelpeter“-Virus! Und der konnte nun wirklich keinen Schaden anrichten, trotz der „Mohren-Geschichte“! Nein, offensichtlich reizte dieser Virus die Lachnerven und führte zu andauernder Heiterkeit. Hoffentlich blieb er noch lange Zeit aktiv!
Dieser Erkenntnis eingedenk, zog Heinrich Hoffmann seine Feldmannflasche aus dem Gürtel und nahm einen tiefen Schluck. Daraufhin gab er unverzüglich seinen vorübergehenden irdischen Geist auf, und seine Seele schwebte zurück gen Himmel. Von dorther sendet er, nicht fliehend nur, freudige Grüße herzlicherweise – in den Großen Hirschgraben.
Frank Raudszus
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