Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ wurde zum letzten Mal vor 22 Jahren im Staatstheater Darmstadt aufgeführt, damals als Einpersonenstück im Intendanzgärtchen und ganz der romantischen Intention verpflichtet. Jetzt hat die Theaterwerkstatt des Theaters, ein Projekt theaterbegeisterter Laien, diese Vorlage wieder aufgenommen und aus einer völlig anderen Perspektive inszeniert.
Eichendorffs Novelle spiegelt die romantische Vision eines von äußeren Zwängen völlig befreiten Lebens, das sich wie von selbst zu einem glücklichen Ganzen fügt. Das letzte, was man Eichendorff unterstellen kann, sind Ironie und Satire, höchstens ein leiser, romantisch-rebellischer Protest gegen die zur damaligen Zeit herrschende Restauration im Metternichschen Ungeist.
Der noch junge Held wird von seinem Vater wegen Untätigkeit und Ziellosigkeit mehr oder minder aus dem Haus geworfen und in die Welt geschickt, um zu lernen auf eigenen Beinen zu stehen. Doch was er auch beginnt, gerät ihm zum Glück. Er wird als Gärtnergehilfe auf einem Schloss eingestellt, gewinnt das Herz der Hausherrin und kehrt zu dieser nach einigen Wanderungen – bis nach Rom! – zurück. Und es ist eben nicht die Geschichte von „Hans im Glück“, der bei jedem Tausch etwas verliert und am Ende mittellos aber glücklich dasteht, sondern ihm winkt wirklich das schiere Glück.
In Darmstadt stand Nike-Marie Steinbach vor der Aufgabe, ein zwanzigköpfiges Laienensemble mit einem Stück zu beschäftigen, das im Prinzip nur eine Hauptperson kennt. Sie entschied sich dafür, anstelle einer klassischen Handlungsdarstellung eine Textcollage auf die Bühne zu bringen. Dazu verteilte sie Auszüge des Originaltextes auf die verschiedenen Darsteller und Darstellerinnen – vierzehn Frauen, sechs Männer – und vermischte sie mit selbst erstellten Texten, die sich auf die (heutige) gesellschaftliche Umgebung des Ensembles beziehen.
Die Originaltexte verteilt sie jedoch nicht in einer handlungsorientierten Form, sondern als sprachliche Leitmotive und lässt sie repetierend durch das Ensemble wandern. Da werden das verträumte Phlegma des Protagonisten, der Ärger des Vaters, der Auszug aus dem Hause und die schwärmerische Hoffnung auf die Eroberung der Welt in vielerlei Stimmlage und mit unterschiedlichstem Ausdruck zitiert. Dadurch verdichtet sich die typische Sehnsucht der Hochromantik nach Weite und Welterfahrung zu einer fast physisch erfahrbaren Stimmung.
Konterkariert wird diese utopistische Sehnsucht durch knallharte Kommentare über die Unsicherheit des Lebens aus dem Munde einzelner Ensemblemitglieder, die damit unversehens aus dem Spiel heraustreten und auf die Meta-Ebene der eigenen Existenz wechseln. Die lakonisch bis bitter-satirische Darstellung der heutigen Realität, aber auch der eigenen Ängste stellt die Eichendorffsche Romantik ganz unromantisch in Frage, ohne jedoch deswegen das Stück in irgendeiner Weise zum Kippen zu bringen. Wie der griechische Chor konfrontiert eine kleine Gruppe in wechselnder Besetzung vom Rande der Bühne das romantische Spiel um das unverhoffte eintreffende Lebensglück mit bissigen Erfahrungsberichten aus dem eigenen – heutigen – Leben mit der Realität. Bis zum Ende dieser Textcollage bleibt diese Spannung bestehen und wird auch nicht dadurch aufgelöst, dass der „Taugenichts“ tatsächlich im Glück verharrt und keine späte Strafe der Realität erfährt. In dieser Hinsicht bleiben das Ende und damit alle Fragen nach dem Glück offen.
Man hätte die fast eineinhalb Stunden dauernde Inszenierung vielleicht noch etwas kürzen können, denn die Textcollage ermüdet stellenweise ein wenig, auch wenn sie durch allerlei tänzerisch-spielerische Aktivitäten aufgelockert wird, aber dennoch ist der Gesamteindruck durchaus beeindruckend. Das gesamte Ensemble zeigt überzeugende Leistungen, mit einigen hervorstechenden jungen Frauen, die denn auch öfter an die Rampe dürfen und ohne Scheu deklamieren oder ausgeprägte Emotionen zeigen. Das Bühnenbild zeigt einen symbolischen Brunnen als Quell des Lebens (und des Glücks), von dem sich Adern in Form von Leinen ausbreiten, die wiederum als Ausdruck des täglichen Lebens die Menschen umfangen und sie in ihren Bewegungsmöglichkeiten einengen. Es müssen wieder Menschen kommen und sie mit Emotionen aus dem Gewirr der einengenden Leinen befreien. Quod erat demonstrandum!
Das Publikum belohnte das engagierte Ensemble mit kräftigem Beifall.
Frank Raudszus
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