Miku Sophie Kühmel: „Kintsugi“

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In ihrem Debüt-Roman „Kintsugi“ erzählt Miku Sophie Kühmel die Beziehungsgeschichte dreier Männer und einer jungen Frau. Es geht um Außenseitertum, um komplizierte Biographien, um Homosexualität und alternative Lebensformen.

Viel hat sich die junge Autorin vorgenommen, das sie mit dem Leben ihrer vier Protagonisten verknüpft.

Reik und Max sind seit 20 Jahren ein Paar, sie leben in Berlin. Reik ist ein sehr erfolgreicher Maler und Bildhauer, Max Dozent für Archäologie an einer Berliner Universität. Für ein Wochenende laden sie Reiks Jugendliebe, den Gelegenheitsmusiker Tonio, und dessen Tochter Pega in ihr Wochenendhaus in der Mark Brandenburg ein.

Aber ein beschauliches Wochenende wird das nicht, vielmehr werden lange unterdrückte Risse in der bis dahin scheinbar harmonischen Freundschaft sichtbar.

Max, Reik und Tonio sind um die 40, Ende der 1970er Jahre geboren, Tonios Tochter Pega ist 20. Die drei Männer, die selbst alle vaterlos aufgewachsen sind, haben Pega mehr oder weniger gemeinsam großgezogen, die wiederum ihre Mutter gar nicht kennt.

Alle drei Männer sind in prekären Verhältnissen aufgewachsen: Max in der links-alternativen WG seiner Mutter, Reik mit einer Alkoholikerin als Mutter, Tonio als Enkel italienischer Einwanderer, die mit harter Arbeit ein kleines Geschäft aufgebaut haben, das die Mutter mit den Schwestern nach dem Verschwinden des Vaters weiterführte. Geborgene Kindheit haben alle drei nicht erfahren

Kühmel entwickelt die innere Dynamik, die in dieser Konstellation steckt, mit verschiedenen erzählerischen Kunstgriffen, die sowohl die aktuelle Situation analysieren und gleichzeitig die Vergangenheit aufarbeiten.

Es gibt einen außenstehenden – traditionell-allwissenden – Erzähler, der Anfang und Ende des Romans übernimmt:  Er beschreibt das Setting, das im Sinne der Fengshui Methode von Max gestaltete Haus und stellt die Figuren Max und Reik vor, am Ende unternimmt er einen Ausblick in die Zukunft.

Brisante aktuelle Situationen werden schlaglichtartig in szenischer Darstellung präsentiert.

Die Aufarbeitung der je eigenen Vergangenheit und die Interpretation der Beziehungen in dieser Viererkonstellation werden nacheinander aus der jeweiligen Ich-Perspektive von Max, Reik, Tonio und zum Schluss von Pega vorgenommen. Dabei gibt es auch in diesen erzählenden Passagen Sprünge in die Gegenwart der aktuellen Situation.

Die erzählenden Passagen von Max einerseits und Reik andererseits entfalten die Ambivalenzen, die beide in ihrer Beziehung empfinden: Sie sind so stark aufeinander bezogen, dass sie sich dringend brauchen und sich ein Leben ohne den anderen nicht vorstellen können, gleichzeitig  aber gerade diese Nähe als Einschränkung empfinden.

Ihr Haus strahlt die von Max geprägte Ordnung und Harmonie aus. Dass es da dennoch kleine Störungen gibt, zeigt sich schon zu Anfang in einem kleinen, hämischen Eingriff in diese Ordnung durch Reik, den genialen, aber chaotischen Künstler. Hier scheinen sich zwei Gegensätze angezogen zu haben, deren Liebesbeziehung auch nach 20 Jahren noch intensiv ist.

Tonio wiederum reflektiert sein eigenes Leben als das der verpassten Chancen: Er hätte möglicherweise als hochbegabter Pianist und Musiker eine große Künstlerkarriere vor sich gehabt, wäre da nicht dieses Kind gewesen, das die Mutter nicht wollte, um dessen Existenz er aber gekämpft hat. Für dieses Kind hat er alle Karrierewünsche aufgegeben, schlägt sich als Barpianist wie auch als Putzmann durch. Und doch kann er nicht wirklich hadern, ist diese Tochter doch das Beste, was ihm geschehen konnte.

Seit ihrem Auszug muss er sich neu definieren, insbesondere auch, was seine ambivalente sexuelle Orientierung anbetrifft.

Pega wiederum kämpft darum, von ihren drei Vätern als Erwachsene akzeptiert zu werden. Sie ist inzwischen Studentin, versucht sich in Unabhängigkeit, findet sich aber in der neuen Umwelt nicht so ganz zurecht. Sie hat ihre erste enttäuschende Liebesgeschichte hinter sich gebracht und würde sich am liebsten wieder in ihrem Kinderzimmer verkriechen. Ihre Orientierungslosigkeit wird offenkundig, als sie unvermittelt versucht, Max zu verführen, in den sie seit ihrem 9. Lebensjahr meint verliebt zu sein.

So tragen alle vier „Familienmitglieder“ ihr Päckchen unausgesprochen mit sich herum.

Alles das entlädt sich an diesem Wochenende.

Die eingeblendeten szenischen Passagen markieren die Entwicklung des Dramas in 5 Akten:

  1. Exposition: Ankunft der handelnden Personen, latente Spannungen werden sichtbar
  2. Entwicklung des Konflikts: Streit zwischen Max und Tonio
  3. Zuspitzung des Konflikts: Streit zwischen Tonio und Reik, Zerstörung der japanischen Schale
  4. Höhepunkt und Umschlag der Handlung: Trennung von Max und Reik, Bekenntnis von Tonio
  5. Lösung: Jeder geht seinen Weg, lebt sein eigenes Leben.

Kühmel gibt allen erzählenden Passagen jeweils einen Begriff aus der japanischen Kunsttheorie als Überschrift. Diese Begriffe beziehen sich auf Gestaltung von Schönheit, Ordnung und Harmonie, sie stehen für das Bemühen aller vier Protagonisten, ihr Zusammenleben ehrlich und harmonisch zu gestalten. Das aber kann nicht gelingen.

Am Ende stehen alle vier vor einem Neuanfang in ihrem Leben, den sie alleine gehen müssen, um sich aus alten Abhängigkeiten zu lösen und den eigenen Weg zu finden. Ein Wiederfinden des anderen ist dabei nicht ausgeschlossen.

Das zentrale Motiv in Kühmels Roman für die Brüchigkeit aller Beziehungen ist die japanische Teeschale aus Maxens Sammlung. Sie war schon einmal beschädigt, aber Max konnte sie nach der japanischen Methode des „Kintsugi“ mit feinem Goldstaub fast unsichtbar reparieren. Ganz am Ende setzt Reik diese inzwischen nahezu ganz zerschlagene Schale noch einmal zusammen, nun aber sind, wie beim Kintsugi üblich, die geklebten Risse sichtbar, was die Schale nur noch wertvoller macht.

Kühmel fühlt sich mit erstaunlicher Sensibilität in die Strukturen homosexueller Beziehungen ein, stellt diese „Männerfamilie“ dar als eine ganz normale Familie mit denselben Konflikten wie in einer heterosexuellen Beziehung. Anders als Hetero-Familien steht die homosexuelle aber unter einem besonderen Druck: Sie muss gelingen, will sie nicht diese Lebensform ganz in Frage stellen. Umso schwieriger ist offenbar ein Trennungsprozess, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Kühn ist ihr Umgang mit den ganz unterschiedlichen Darstellungsmitteln, mit denen es ihr gelingt, ihre Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven zu präsentieren und sie gleichzeitig in der szenischen Präsentation als unmittelbar Handelnde zu zeigen. So gelingt es ihr, die Komplexität der Charaktere wie auch ihrer Beziehungen zu entwickeln und gleichzeitig die Relativität von Urteilen und Wahrheitsanspruch zu thematisieren. Ein insgesamt anspruchsvolles Unterfangen.

Allerdings hätte man sich die erzählenden Passagen bisweilen weniger weitschweifig gewünscht. Eine Straffung der Ich-Erzählungen hätte die Protagonisten auch vor einigen Allgemeinplätzen über das Leben schlechthin bewahrt.

Insgesamt ist der Roman von erstaunlicher Komplexität, die der Rezensentin einiges Nachdenken abverlangte.

Der Roman ist im S. Fischer Verlag erschienen, hat 295 Seiten und kostet 21 Euro.

Elke Trost

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