Das letzte Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt war eine vorweihnachtliche Verbeugung vor dem Abonnementspublikum. Keine ausgesprochen moderne Musik, keine schwer verdaulichen Harmonie- und Rhythmusexzesse, sondern Romantik pur mit echten Repertoire-Rennern, zumindest einem. Schubert und Brahms standen im Mittelpunkt des Abends, und Bartók gab den Auftakt dazu. Als Dirigent hatte man den international renommierten Operndirigenten Paolo Arrivabeni eingeladen.
In seinen „Rumänischen Volkstänzen“ (SZ 68) verarbeitete Béla Bartók Siebenbürgener Volkslieder, die er eher zufällig von vor sich hin singenden Frauen gehört hatte, zu orchestralem Format. Das nahezu vollständige Orchester – ohne Schlagzeug – verleiht diesen einfachen, teilweise pentatonischen Themen akustische Präsenz. Die nur etwa acht Minuten währende Komposition besteht aus sieben kurzen Tänzen unterschiedlicher Tempi und Rhythmik. Filigranes Flötenspiel löst elegische Motive ab, entfernt meint man Nähe zu orientalischer Musik zu spüren, und den Schluss bilden zwei lebhafte Tänze, die das Stampfen der Tänzer musikalisch abbilden. Die herkömmliche Tonalität und die in sich geschlossene Form verweisen eher auf das ausgehende 19. denn auf das noch junge 20. Jahrhundert.
Das Orchester intonierte diese sieben Tänze unter den sparsamen Anweisungen Arrivabenis als kleine Pretiosen mit Gespür für das Detail und – ja: für den stillen Humor in diesen Volksliedern.
Danach stand Franz Schuberts „Unvollendete“, wie man will die 8. oder 7. Sinfonie. Die aktuelle Forschung verortet sie als die 7., aber für Generationen von Musik- und Schubertliebhabern ist es eben die „Achte“ in h-Moll. Das Programmheft zu diesem Konzert weist sie daher klugerweise nur mit Tonart und Deutschverzeichnis aus.
Arrivabeni zog nach den ersten langsamen Bögen der Bässe das Tempo gleich an und sorgte für eine federnde Gangart des Orchesters. Bestechend gleich zu Beginn die saubere, warme Intonation der Hörner. Später bildeten Klarinette und Oboe ein perfektes Duo, das sich thematisch abwechselte und die jeweiligen Motive seidenweich und stets mit dem sehnsuchtsvollen Grundton Schubertscher Musik vortrug. Dem schloss sich später das Cello an, das für den klanglichen Kontrast zu den beiden Holzbläsern sorgte. Dirigent Arrivabeni sorgte dabei als Opernspezialist für die gründliche Gestaltung der Spannungselemente, die sich aus leisen, fast zaghaften Anfängen bis zu den befreienden Ausbrüchen steigerten.
Der zweite Satz – auch im Dreivierteltakt, jedoch etwas markanter, kommt wie ein Trauermarsch daher. Hier beeindruckten Orchester und Solisten vor allem in den leisen Stellen. Wie im ersten Satz dominierten Klarinette, Oboe – bisweilen auch die Flöten – und das Cello die Verarbeitung der Motive. Der restliche Orchesterkörper gerann deswegen jedoch nicht zur bloßen Begleitung, sondern setzte die orchestralen Kontraste nicht nur bei den expressiven „Tutti“-Phasen sondern auch in den leisen Passagen.
Wenn dieser zweite Satz mit einem lang gezogenen Ton zu Ende gegangen ist, fragt man sich, warum Schubert den dritten Satz (16 Takte!) nie fertiggestellt und einen vierten gar nicht erst angefangen hat. Andererseits verleiht gerade der „unvollendete“ Charakter diesem Werk seinen einzigartigen Ruf in der Musikwelt und hat es zu einem der beliebtesten Orchesterstücke werden lassen.
Das kann man von Johannes Brahms´zweitem Klavierkonzert in B-Dur nicht sagen. Das um 1880 entstandene Werk steht zu Unrecht im Schatten des gut zwanzig Jahre älteren ersten Klavierkonzerts in d-Moll. Beide kann man als Sinfonien mit obligatem Klavier bezeichnen, denn Brahms hat dem Klavier nicht mehr die dominante Rolle zugeordnet, wie man sie von der Klassik oder früheren Romantik – Schumann, Chopin – kennt. Das Orchester ist sowohl im ersten als auch im zweiten Klavierkonzert nicht nur gleichwertiger Partner, sondern übernimmt auch über längere Strecken mit vollem instrumentalem Einsatz die Führung. Das Klavier sucht sich sozusagen die Nischen in der Orchestrierung, um sich dort kurzfristig auszubreiten. Außerdem ist der Klavierpart durchweg akkordisch breit ausgelegt, um nicht im vollen Orchesterklang unterzugehen.
In Darmstadt spielte der junge Joseph Moog das Brahms-Konzert. Gleich die ersten Takte zeigten, wo die Reise hinging: ein markanter Anschlag, der sofort die Solo-Rolle des Klavier einforderte. Nach dem ausladenden Zwischenspiel des Orchesters folgten akkordische Läufe und Akkordketten, die sich stets gegen das Orchester behaupten konnten. Der zweite Satz, ein „Allegro appassionato“, kam ähnlich emphatisch und markant daher wie der erste Satz. Hier bestach Moog durch die virtuosen Läufe und durch seine Fähigkeit, das Klavier in den wenigen Solostellen zum eigenen Orchester zu machen.
Das Andante des dritten Satzes lebt vor allem von seinen berührenden Motiven, vor allem, wenn sie vom Klavier vorgetragen werden. Hier konnte Moog seine lyrischen Fähigkeiten zeigen, und Paolo Arrivabeni ließ ihm mit dem Orchester auch genügend akustischen Raum, um die innigen Passagen erblühen zu lassen. Hier zeigt Brahms – und damit auch der Solist – nach zwei mächtig dahin strömenden Sätzen seine andere Seite. Bemerkenswert auch das für ein Klavierkonzert unübliche Cello-Solo, das den lyrischen Charakter dieses Satzes noch verstärkt.
Der Finalsatz beginnt leicht und flüssig, ganz der Tempobezeichnung „Allegretto grazioso“ folgend, verliert diesen Charakter nie, und geht dann nahtlos in das „piu presto“ des Finalsatzes über, so dass man auch von einem fünfsätzigen Werk reden könnte. Souverän und in hervorragender Abstimmung mit dem Orchester absolvierte Moog die streckenweise rhythmisch und motivisch schwierigen Passagen, wobei er engen Blickkontakt mit Dirigent und Orchester hielt. Dabei wird der Strom der gemeinsamen Themen immer wieder kurz unterbrochen durch kurze Solo-Kadenzen des Klaviers, wenn man denn diese Passagen so nennen will.
Das Publikum zeigte sich begeistert und spendete allen Beteiligten, aber vor allem dem Solisten, kräftigen Beifall. Schließlich spielte Moog noch eine – zum Advent passende – Pastorale von Scarlatti als Zugabe. Dameit endete eine Konzertmorgen, der das musikalische 19. Jahrhundert exemplarisch verdichtete.
Frank Raudszus
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