Georg Büchners Komödie „Leonce und Lena“ ist geradezu eine Büchse der Pandora für den unvoreingenommenen Rezipienten. Die nackte Handlung erinnert eher an ein Märchen der Gebrüder Grimm: Prinz und Prinzessin zweier Kleinstaaten sollen sich unbekannterweise aus dynastischen Gründen heiraten, lehnen das aber ab und fliehen jeweils mit Diener bzw. Dienerin Richtung Italien. Natürlich treffen sie sich, verlieben sich ineinander und beschließen, mit ihrer Hochzeit den Eltern die revolutionäre Stirn zu bieten. Zu Hause müssen sie jedoch erkennen, dass sie genau die Absichten ihrer Väter verwirklicht haben, und fügen sich dankbar in dieses nun doch gewollte Schicksal.
Das könnte man zum Einen rein affirmativ sehen, frei nach dem Motto „wir leben in der besten aller Welten, und die Vorsehung gibt den Vätern Recht“. So hat das Georg Büchner jedoch sicher nicht gesehen. Man kann das Ende aber auch melancholisch oder gar resignativ interpretieren. Ganz gleich, welchen Utopien Revolutionäre auch nachjagen, sie werden die Welt nicht verändern; es bleibt doch alles beim Alten. Diese melancholische Perspektive liegt umso näher, als Büchner seinen Protagonisten Leonce anfangs bewusst als Melancholiker darstellt, der an keine Zukunft mehr glaubt. Dann wäre dieses Stück allerdings eher eine Tragikomödie. Eine solche Sicht würde aber auch die beißenden satirischen Szenen über Kleinstaat-Potentaten und sinnlose Hof-Rituale in den Hintergrund rücken.
Eine weitere Schwierigkeit bei Neuinszenierungen dieses Stücks sind die geänderten Umgebungsbedingungen. Was Büchner damals in grotesk verzerrten Texten und Szenen karikierte, war die (gesellschafts)politische Wirklichkeit der restaurativen Epoche nach den napoleonischen Kriegen, während sie uns heute nur noch als eine Groteske im Sinne der Commedia dell´Arte erscheint. Kein Zuschauer bringt dieses Szenen heute mehr mit dem politischen Alltag in Verbindung. Eine Inszenierung muss daher heute einerseits grotesk sein, um Büchner gerecht zu werden, andererseits darf sie nicht im Klamauk des schenkelklopfenden Humors steckenbleiben. Eine schwierige Gratwanderung, die leicht zur einen oder anderen Seite abgleiten kann.
In Darmstadt gelingt der jungen Regisseurin Julia Prechsl diese Gratwanderung mit einer zwar deftigen, aber – außer ein paar Kalauerb – nie platten Groteske, die neben handfesten Handlungen auch das Wort zu Wort kommen lässt. Dazu hat sie das Stück deutlich gekürzt und das Personal auf die beiden Paare sowie den König und zwei seiner Hofschranzen ausgedünnt. Das Volk kommt hier nur im Text vor, und Nebenfiguren werden nach Bedarf von den Darstellern als Doppelfunktion in Gestalt eines Chors auf die Bühne gebracht. Die Kernszenen dieser Inszenierungen sind die Dialoge zwischen Leonce (Béla Milan Uhrlau) und Valerio (Victor Tahal) einerseits sowie Lena (Anabel Möbius) und der Gouvernante (Nicola Lembach) andererseits. Dazu kommen die Auftritte des Königs Peter (Thorsten Loeb) und seiner beiden Minister (Karin Klein und Stefan Schuster).
Das Bühnenbild hat Valentin Baumeister mit einer überdimensionierten Hüpfburg in der Farbe des grauen Alltags – man kann auch sagen „das Grauen des Alltags“ durchaus metaphorisch gestaltet. Diese Burg bläst sich sozusagen mit „heißer Luft“ auf und muss auch dauernd mit neuer heißer Luft vor dem Zusammenbruch bewahrt werden. Auf ihr verlieren die Akteure leicht die Balance, einige – wie der Dienstbote Valerio und die Gouvernante – mit viel Spaß an dem anarchischen Verlust des Gleichgewichts, andere – wie die Minister – mit wahrem Schrecken. Diese graue Hüpfburg dreht sich wie ein Jahrmarktkarussel – eine weitere Metapher – auf der Drehbühne um und um und lässt die Darsteller aus den sich immer wieder neu öffnenden Seiten agieren.
Manche Szenen erfordern das Wissen um die damaligen Zustände, um die beißende Satire dahinter zu erkennen. So suchen die Minister nach dem Verschwinden des Prinzen die Grenzen des Landes ab, und das praktischerweise vom Schloss des König aus; denn sie können von hier in allen vier Himmelsrichtungen die Grenzen sehen. Das nimmt ein heutiges Publikum mangels Vergleichbarkeit mit der Realität leicht als bloßen Witz hin. Ähnliches gilt für die pompös-dämlichen Auftritte des Königs, die man heute als Slapstick-Komik missverstehen könnte, die aber von Büchner tatsächlich als Karikatur der erstarrten Hofrituale und der dank inzestuöser Heiratspolitik immanenten Dekadenz der Fürstenhöfe gemeint war. Man muss sich als heutiger Zuschauer also jederzeit des satirischen Hintergrunds bewusst sein, um das Bühnengeschehen nicht als platten Witz misszuverstehen.
Die Texte sind bei Büchner ausgesprochen dicht und zitieren laufend die philosophischen, literarischen und politischen Erkenntnisse seiner Zeit. Das Ganze ist stets ironisch leicht verfremdet, um der Zensur keinen zu einfachen Ansatzpunkt zu liefern. Man muss genau zuhören, um die bitterbösen Anklagen an das System und die herrschenden Schichten zu verstehen. Denn diese kaschierte Satire kommt gerne als Sarkasmus mit einem Schuss Zynismus daher, garniert mit melancholischer Resignation, so dass man den revolutionären Protest nicht auf Anhieb erkennt. Besonders die Dialoge zwischen Leonce und Valerio strotzen geradezu von Seitenhieben auf die politischen Verhältnisse, wobei Leonce die melancholisch-resignative und Valerio die sarkastisch-optimistische Position einnimmt. Damit folgt Büchner dem theatralischen Konzept des ausgehenden 18. Jahrhundert, das die wahre Lebensintelligenz den Dienstboten zuordnete, siehe Beaumarchais – und Mozart.
Ähnlich wie bei der „Othello“-Inszenierung ändert auch Julia Prechsl das Ende des Stücks eigenmächtig. Hier präsentiert nicht Valerio das Liebespaar in Verkleidung als „Automaten“ für eine Verheiratung „in effigie“, sondern Valerio und die Gouvernante sind selbst dieses Paar und lassen sich von dem herbeigeeilten Priester trauen. Während sie Hochzeitsgesellschaft in den grauen Hüpfburgmauern feiert, lassen die herbeischlendernden Leonce und Lena einfach die Luft aus dem Luftschloss des Königs, das darauf still in sich zusammensinkt. Finis!
Die metaphorische Bedeutung dieses Endes ist selbsterklärend und passt auch ein wenig zum Spieltermin genau dreißig Jahre nach der Maueröffnung. Auch damals zog jemand einfach den Stecker für die Luftpumpe, die einen verkrusteten Staat am Leben hielt. Leonce und Lena jedoch fliehen nicht Hand in Hand mit einem kleinen Mädchen wie bei „Othello“ aus dem Theater, sondern schauen dem Zusammenbruch des königlichen Luftschlosses ohne Bedauern zu. „Auf zu neuen Ufern“, heißt die Devise.
Die Darsteller verliehen der Inszenierung mit ihren Leistungen den komödiantischen Schwung und auch den nötigen Ernst. Béla Milan Urhlau ist ein nachdenklicher, vielschichtiger Leonce; Victor Tahel bringt als sein lebensbejahendes Pendant Valerio die Dinge immer wieder auf den Punkt. Anabel Möbius spielt die Lena als emanzipierte und aufrührerische, aber auch sehr empfindsame junge Frau, während Nicola Lembach ihr als zupackend Gouvernante zur Seite steht. Thorsten Loeb verleiht dem König Peter die Aura eines selbstgefälligen Minderbegabten, und Karin Klein sowie Stefan Schuster assistieren ihm als speichelleckende Minister.
Eine kurzweilige Aufführung mit einigem Tiefgang.
Frank Raudszus
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