Peter Tschaikowskys Ballett „Der Nussknacker“ ist der Theater-Klassiker für die ganze Familie zur Vorweihnachtszeit. Das liegt nicht zuletzt an der Geschichte, die um die Weihnachtszeit spielt. Diese Tatsache birgt die latente Gefahr, vor allem in einer textlastigen Inszenierung, daraus ein gefühliges wenn nicht gar kitschiges Weihnachtsmärchen zu machen, das saisonbedingte emotionale Rührseligkeit bestätigt.
Tim Plegge, der Leiter des Hessischen Staatsballetts, hat mit seiner Choreographie diese Gefahr in souveräner Manier umschifft. Nicht nur, dass er konsequent auf jeglichen gesprochenen Text verzichtet, sondern seine reine tänzerische Inszenierung dieses Stoffes überzeugt mit einer humoristischen Note, die wie aller guter Humor mit Ernsthaftigkeit gepaart ist, sowie mit dramaturgischen wie musikalischen Ideen, die der vermeintlichen Kindergeschichte immer neue Perspektiven abgewinnen.
Das beginnt schon in der ersten Szene, wenn der Orgelspieler Ralph Abelein noch vor dem Orchestereinsatz eine eigene musikalische Einführung mit Live-Musik an der Hammond-Orgel auf leerer Bühne im Jazz-Stil gibt. Das nimmt der Inszenierung von vornherein den weihevollen Charakter und verleiht ihr den Hauch einer Pianobar-Atmosphäre.
In diesem leichten Stil geht es weiter. Dazu installiert Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann erst einmal einen übergroßen grauen Schrank auf der Bühne, der für die Inszenierung geradezu metaphorische Züge annimmt. Die Schranktür ist für die kindliche Marie das Tor in die eigene Phantasiewelt mit ihren Puppen, Ratten und nicht zuletzt dem Nussknacker, die für sie in dieser Parallelwelt hinter dem Kleiderschrank alle lebendige Gestalt annehmen.
Wenn die weihnachtlichen Vorbereitungen in Maries Familie die Phantasien verdrängen, wird auch der graue Schrank immer kleiner und rückt in den Hintergrund, wo er sich gerne multipliziert und die kindliche Phantasie weiterhin beschäftigt. Im Vordergrund jedoch widmet sich die Inszenierung genüsslich den familiären Verhältnissen. Die geschäftige Mutter (Kristin Bjerkestrand) muss den permanent Zeitung lesenden Vater (Denislav Kanev) zur Mithilfe antreiben, Bruder Fritz ärgert die kleine Marie (Aurélie Patriarca) unentwegt, und zu allem Überfluss kommt noch die eigenwillige Oma ganz in Grau und mit Dauerwellen, umarmt ihren Sohn, übersieht die Schwiegertochter und erzieht mit schmalen Lippen die Kinder. Gaetano Vestris Terrana geht in dieser exaltierten Rolle geradezu auf und trifft den Typus der Schwiegermutter fast schon klischeehaft mit allen mimischen und gestischen Macken auf den Punkt.
Und dann ist es neben der restlichen Verwandschaft der phantasievolle Drosselmeyer, der mit seinen geschmeidigen und kindnahen Marotten Herz und Phantasie der kleinen Marie beflügelt. Tatsuki Takada tanzt ihn mit geschmeidigen, weit ausgreifenden und verzückten Bewegungen, und man kann sich vorstellen, dass Marie ihn wegen des Gegensatzes zur hektischen Weihnachtsgeschäftigkeit von Mutter und Oma sofort ins Herz geschlossen hat.
Tim Plegge achtet in dieser Inszenierung darauf, dass die familiären Verhältnisse als erzählerische Handlung und nicht als abstrakter Körperausdruck getanzt werden. Jede tänzerische Figur charakterisiert die jeweilige Person und ihre besonderen Eigenarten; und jeder emotionale Körperausdruck bezieht sich auf die Bühnenhandlung und nicht auf verborgene innere Befindlichkeiten.
Besonders eindrucksvoll geraten auch die Rattenkämpfe. In grauen Kostümen mit langen Schwänzen huschen die Tänzer in dicht gedrängten Gruppen gebückt über die Bühne, so dass auch auch ohne das szenische Wissen die Assoziation an eine Rattenherde aufdrängt.
In dieser Phantasiewelt fahren die grauen Schränke wie von Geisterhand auf die Bühne und verstärken den magischen Eindruck auf Marie – und auf die Zuschauer – damit noch. Und wenn Marie die Türen öffnet, treten entweder Puppen oder der Nussknacker (Jorge Moro Argote) heraus. Dieser wird mit seinen großen Zähnen und den zackigen Bewegungen zur zentralen Bezugsperson des kleinen Mädchens und vor allem im zweiten Teil zu ihrem ständigen Begleiter.
Der erste Teil endet mit einem langen Schneegestöber aus vom Bühnenhimmel fallenden Papierschnipseln. Dazu tanzt das Ballett – angereichert um kleine Mädchen – den Schneeflockenwalzer in weißen Kostümen als Feier der Schwerelosigkeit. Die Tänzer und Tänzerinnen schweben selbst wie Schneeflocken über die Bühne.
Der zweite Teil spielt dann hinter der Schranktür, nachdem Marie der angespannten Vorweihnachtsstimmung in den Schrank entflohen ist. Jetzt kümmert sich der Nussknacker in Lebensgröße um sie, und alle möglichen Fabelwesen – vom Indianerpaar mit Pferd über einen Flugpionier bis hin zur Rattenkönigin – bevölkern die Bühne und Maries Phantasie. Der Nussknacker besiegt in einem langen Zweikampf die Rattenkönigin, die passenderweise ebenfalls Gaetano Vestris Terrana tanzt. Beeindruckend ist auch das Zusammentreffen Maries mit ihren Doppelgängerinnen, wenn plötzlich die gesamte Tanzcompagnie sie im gleichen geblümten Kleid umtanzt, so dass der sie betreuende Nussknacker sie in den vielen Kopien kaum noch finden kann. Diese Szene lässt sich durchaus (tiefen)psychologisch deuten, doch Plegge deutet dies in der Verunsicherung des Mädchens nur an, ohne diese Szene tänzerisch und gestisch auszuschlachten. Die Angst um die eigene Identität des Mädchens wird jedoch geradezu physisch spürbar.
Wenn Marie zum Schluss wieder in die weihnachtliche Familienwelt zurückkehrt, tut sie dies schweren Herzens, denn diese Welt mit dem Sieg des Guten (Nussknacker) gegen das Böse (Rattenkönigin) und all den seltsamen Fabelwesen fasziniert sie mehr als ihre eigene Familie mit all den kleinen Bosheiten und Zwängen. Doch Drosselmeyer hilft ihr mit seinem Hang zum Fabulieren und zur zarten Zauberei über diese Rückkehr in die Realität hinweg.
Plegge hat diese Inszenierung auch musikalisch mit neuen Ideen angereichert. So lässt er an bestimmten Stellen Ralph Abeleit solistisch an der Hammondorgel improvisieren, mal vorne, mal hinten auf der Bühne, mal links mal rechts. Dabei nimmt Abeleit zwar Tschaikowskys Ideen auf, improvisiert jedoch darüber im Stil des Jazz und bringt damit eine moderne Note in die Inszenierung.
Das Orchester unter der Leitung von Michael Nündel passt sich dieser musikalischen Vielfalt geschmeidig an, gestaltet die Übergänge vom Jazz zur Spätromantik fließend und sorgt für eine markante und präzise musikalische Interpretation des Bühnengeschehens. Dabei vermeidet Nündel jegliche sentimentale Überzeichnung und sorgt für klare musikalische Strukturen.
Das tänzerische Ensemble des hessischen Staatsballetts hat bei dieser Produktion alle Möglichkeiten sich zu entfalten und nutzt diese zu einer so abwechslungsreichen wie temporeichen Choreographie. Die tänzerischen und szenischen Ideen tragen entscheidend dazu bei, dass keinerlei Längen auftreten und die Spannung bis zum letzten Augenblick auf einem hohen Stand bleibt. Entscheidend ist dabei auch die positive Atmosphäre, die vom ersten bis zum letzten Bild auf und vor der Bühne herrscht und die sowohl das Ensemble als auch das Publikum beflügelt.
Letzteres zeigte sich bereits beim Szenen- und Pausenbeifall sehr spendabel und äußerte seine Begeisterung am Ende durch lang anhaltenden Schlussapplaus, der sich mit „Bravo“-Rufen mischte und in stehenden Ovationen endete.
Frank Raudszus
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