Der Autor dieses Buches ist selbst Naturwissenschaftler und forscht über die Quantentheorie. Er ist also, wenn man so will, bei einem Buch über die wissenschaftliche Denkweise befangen. Doch das ist bei diesem Buch keine Belastung sondern eher ein Vorteil, da er das Wesentliche der wissenschaftlichen Art, die Welt zu betrachten, auf den Punkt bringt.
Rovelli schildert zu Beginn die intellektuelle Situation Europas, speziell Griechenlands und Milets in Kleinasien, im ausgehenden 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Bis dahin wurden alle Naturphänomene durch personalisierte Götter erklärt, doch Anfang des 6. Jahrhunderts (ca. 590) kam mit Anaximander von Milet eine neue Denkrichtung auf. Aus dem schmalen schriftlichen Erbe Anaximanders hebt Rovelli vor allem den Satz über den Regen hervor, der sich durch Verdunstung von Meerwasser, Transport in Wolken und Ausfallen aus diesen ergebe. Das war für das damalige Weltverständnis geradezu revolutionär, wurde aber anfangs nur in intellektuellen, d.h. philosophischen Kreisen wahrgenommen.
Das astronomische Verständnis bezüglich der Sonne, der Sterne und der Planeten war weit fortgeschritten, vor allem die Ausdeutung für irdische Aktivitäten wie Aussaat und Ernte. Auch Sonnen- und Mondfinsternis kannte man und konnte sie grob voraussagen, allerdings all dies nur auf dem Verständnis einer beliebig tief reichenden Erde als „Basis“ des Universums und den Himmelskörpern als frei „über“ dieser Erde auf verschlungenen Pfaden wandernden Gebilden unklarer materieller Beschaffenheit. Dagegen erkannte bereits Anaximander, dass die Erde im Raum schwebt und das „Oben“ und „Unten“ keine absolute, sondern eine auf die Erde (als anziehende Kraft) bezogene Größe ist. Da das der Erfahrung mit „herunter fallenden“ Gegenständen widersprach – dann müssten ja alle Gegenstände auf der anderen Seite der Erde in Gegenrichtung fallen! – sah man diese Auffassung sehr kritisch. Dass Anaximander die Erde in den Mittelpunkt rückte und die Gestirne in verschiedenen Ebenen um sie kreisen ließ, versteht sich von selbst. Dabei platzierte er ausgerechnet die Sterne in die unterste, erdnächste Umlaufbahn. Auch die Kugelform der Erde berechnete er bereits aus der unterschiedlichen Länge des Mittagsschattens eines Objekts an verschiedenen Breitengraden.
Auch atmosphärische Phänomene wie Gewitter und Sturm führte Anaximander bereits auf natürliche Ursachen zurück, im Wesentlichen auf den Wind als Bewegung von Luftmassen. Und ebenso über einen „Urstoff“ machte sich Anaximander laut Rovelli bereits intensive Gedanken. Die vier antiken Elemente – Wasser, Erde, Luft und Feuer – waren viel zu sehr miteinander verzahnt, als dass sie „disjunkte“ Grundelemente darstellen konnten. Er nannte diesen Urstoff „Apeiron“ und verortete ihn außerhalb des menschlichen Erfahrungsbereichs. Ähnlich wie die moderne Wissenschaft postulierte er damit eine nicht unmittelbar erfahrbare Grundstruktur alles Seienden, da die erfahrbaren Größen der Welt sich gegenseitig bedingten. Rovelli weist in diesem Zusammenhang auf die geistesgeschichtlich bedeutende Tatsache hin, dass Anaximander seinen Lehrer Thales einerseits verehrte, andererseits für die Setzung des Wassers als „Urstoff“ kritisierte. Ein „Urstoff“ als Grundlage für alles Seiende könne nicht in verschiedenen Formen wie Eis oder Dampf auftreten, sondern müsse unveränderlich sein. Damit legte Anaximander den Grundstein für die moderne Wissenschaft, die bereits etablierte Erkenntnisse einerseits übernimmt, andererseits aber auch verwirft, wenn sie nicht (mehr) zu neueren Beobachtungen und Messungen passen.
Aufgrund des schmalen schriftlichen Nachlasses Anaximanders schweift Rovelli in den folgenden Artikeln ein wenig von seinem Thema ab und betrachtet grundsätzliche Unterschiede der Weltsicht, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. So kritisiert er die permanente Suche nach einer „absoluten“ Wahrheit, die vor allem durch die Religionen entstanden ist, sich jedoch in ähnlicher Intensität teilweise auch in Philosophie und (Natur-)Wissenschaft verbreitet habe. Für ihn sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse lediglich Hypothesen, die noch nicht widerlegt wurden. Das Ziel seriöser Wissenschaft ist für ihn stets die Falsifizierung einer Theorie. Wenn diese allerdings mit angemessenen Mitteln nicht gelingt, gilt die Theorie als Arbeitsgrundlage. In diesem Sinne diskutiert er auch eingehend den Unterschied zwischen Newton und Einstein, wobei letzterer ersteren nicht widerlegt sondern „erweitert“ habe. Newtons Physik stimmt für kleine, sprich: „irdische“ Geschwindigkeiten weiterhin ohne Abstriche. Auch widerlegt die Quantentheorie nicht Einsteins Relativitätstheorie, wenn sie ihr auch in vielen Aspekten widerspricht. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, beide Theorien sinnvoll zu verbinden, statt eine für „richtig“, die andere für „falsch“ zu erklären. Der beschränkte menschliche Geist hat für Rovelli überhaupt keinen Maßstab für diese beiden Kriterien.
Das darf für ihn jedoch nicht zu einer generellen „Relativität“ aller Erkenntnisse führen. Es gibt für ihn eindeutig überkommene und zeitgemäße, d. h. in sich geschlossene und konsistente Erkenntnisse. In diesem Sinne kritisiert er die Haltung einer Wissenschaftlerin, die in einem Vortrag die altchinesische Sicht einer „flachen“ Erde der kopernikanischen einer kugelförmigen Erde gegenüberstellte. Auf eine Nachfrage Rovellis bezüglich des unterschiedlichen „Wahrheitsgehaltes“ dieser beiden Ansichten meinte sie, „Wahrheiten“ seien stets abhängig vom kulturellen Kontext und daher nicht vergleichbar. Demnach sei die Sicht einer scheibenförmigen Erde durchaus nachvollziehbar und zu akzeptieren. Rovelli lehnt diese – auf den ersten Blick höchst tolerant anmutende – relative Sicht entschieden ab, da er zwar den momentanen, d.h. immanent zeitgebundenen Charakter aller Erkenntnis akzeptiert, aber dennoch einen Fortschritt vom Abwegig-Mythischen zum Rational-Nachvollziehbaren postuliert.
Ganz zum Schluss, wenn Anaximander aufgrund der schwachen Quellenlagen keine neuen Erkenntnisse mehr beiträgt, fügt Rovelli noch ein aufschlussreiches Kapitel über die Religionen, speziell den Monotheismus, an. Letzterer wird vor allem von den monotheistischen Religionen als spiritueller Fortschritt gegenüber dem Polytheismus gepredigt. Doch Rovelli zitiert Aussagen anderer Wissenschaftler, die den Monotheismus als Folge des – meist kriegerischen – Zusammenschlusses kleinerer Stämme und Gemeinschaften zu größeren Reichen definiert. Die Herrscher solcher Reiche setzten meist erst den eigenen Polytheismus durch und anschließend einen Monotheismus als Abbild ihrer eigenen weltlichen Macht. Moses und die Israeliten haben demnach den ägyptischen Monotheismus übernommen und gleich die Idee des „auserwählten Volkes“ hinzugefügt. Erst Jesus habe eine religiöse „Parallelwelt“ des Monotheismus jenseits aller nationalen Bevorzugung in die Welt gebracht, die jedoch prompt vom Römischen Reich in Gestalt einer Staatsreligion wieder in säkulare Machtpolitik überführt worden sei. Von eineinhalb Jahrtausend Religion vatikanischer und später katholischer Ausprägung redet er gar nicht erst. Darüber lässt sich vor allem mit gläubigen Christen und Muslims sicher trefflich streiten.
Rovelli ist mit diesem Buch ein guter Überblick über die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Denkens gelungen, auch wenn er seinen Titelhelden über längere Strecken aus dem Blickfeld verliert. Man sollte als Leser daher Anaximander mehr als Auslöser denn als Dreh- und Angelpunkt des Themas sehen.
Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 230 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
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